Foto: Kiran West

Grußwort des Intendanten Daniel Kühnel

Verehrtes, liebes Publikum! Die tiefe Krise, in der sich Johann Wolfgang von Goethe ab Spätsommer 1823 befand, hatte nichts mit den Erfahrungen einer Pandemie oder mit den Erschütterungen eines Krieges zu tun. Goethes Krise war zunächst eine persönliche. Er musste als alter Mann hinnehmen, von einer jungen Frau, der er die Ehe angetragen hatte, abgewiesen zu werden. Goethe schrieb für uns das Erlebte und Empfundene auf, teilte sich uns mit und entschied sich so, aus der persönlichen Krise eine nicht-private, eine öffentliche Sache zu machen. Diese Entscheidung erklärt sogleich, um welche Krise es Goethe nach der Abweisung durch Ulrike von Levetzow nicht, jedenfalls nicht dichterisch ging: Es wäre abwegig zu denken, dass der Autor des Werther, der inzwischen als halbe Heiligkeit verehrte Dichterfürst, der Welt sein persönliches Liebesleid erneut als Krise vorstellen wollte. Und in der Tat spricht Goethes Krisen-Niederschrift – die erschütternde und erschütternd schöne »Marienbader Elegie« – eine andere Sprache: Worum es hier geht, ist die Erfahrung des Abgeschnittenseins von der Welt, die einen Menschen dann zugrunde richten kann, wenn er überrascht feststellen muss, dass nichts mehr hilft, dass alle Mittel, die ihm eigentlich zur Überwindung dienen sollen, nicht länger fruchten, dass er, allerdings höchstens halbverschuldet, zum Objekt in einer an sich zwar unveränderten, aber stummgewordenen Welt verkleinert ist.

So gesehen, ähnelte Goethes Marienbader Krise unseren krisenhaften Erfahrungen in den letzten Jahren: Was uns gesichert schien, was uns als Stärke galt, was uns aufrichtete und worauf wir uns verlassen zu dürfen dachten, scheint durch Pandemie und Krieg vielfach in Frage gestellt. Goethes Rettung war die Musik, die er – gar nicht christlich – als reine und reinigende Gnade, als Geschenk der Götter, das durch nichts aufgewogen werden kann – eben: Götterwert –, empfand. In ihr, so sagt er es uns, finden Mensch und Welt auch in der äußersten Krise wieder zusammen.

Die Saison, die wir Ihnen mit diesem Heft ans Herz legen, gibt sich daher nicht allein mit einer vagen Hoffnung zufrieden. Vielmehr ist sie noch bewusster als zuvor ein tätiges Angebot: Unser Anspruch an die Programme der Saison und unser Versprechen an Sie ist, Musik vor allem in der wunderbaren Laeiszhalle so zu fassen und zu präsentieren, dass sie gleichsam zum Ort der immerwährenden und heilenden Wiederbegegnung mit allem wird, was die Welt zu einer Menschenwelt macht; in einer Zeit, in der Menschlichkeit an Weltboden verliert, scheint uns ein tätiges und freudiges Konzertleben, das darauf zielt, von erheblicher Bedeutung. Natürlich können wir die Gnade der Goethe’schen Götter nicht garantieren, aber wir können alles tun, um sicherzustellen, dass sich ihr nichts in den Weg stellt, dass ihr in der ebenerdigen und durchlässigen Laeiszhalle Tür und Tor stets offenstehen.

Wir freuen uns sehr auf die Musik und auf viele Wiedersehen mit Ihnen!

Herzlich Ihr
Daniel Kühnel
Intendant der Symphoniker Hamburg