Requiem für Hieronymus Bosch

Komponist: Detlev Glanert, geb. 6. September 1960 in Hamburg

Requiem für Hieronymus Bosch – Nach dem lateinischen Requiem und mittelalterlicher Dichtung

Deutsche Erstaufführung

Entstehung: 2015 – 2016
Uraufführung: 4. November 2016 in ’s-Hertogenbosch unter Markus Stenz aus Anlass des 500. Todestages von Hieronymus Bosch im Jahr 2016
Erstdruck: Boosey & Hawkes
Spieldauer: ca. 90 Minuten



Herr Glanert, Sie haben ein Requiem geschrieben, also im katholischen Sinne eines Toten gedacht. Wie klingt für Sie der Tod?

Der Tod hat keinen eigenen Klang. Der Tod ist eine Erfahrung, die wir alle gemeinsam haben werden. Daneben gibt es nur die Erfahrung der Geburt, die wir alle ausnahmslos teilen, aber nicht erinnern. Zwar kennen wir den Tod noch nicht, aber wir haben fast alle schon den Tod von Familienangehörigen oder von Freunden erlebt. Er hat selbst keinen Klang, aber der Umgang mit ihm: Die Trauer oder die Disziplin oder auch der Hass und der Schmerzensschrei. Oder die Wünsche, die wir dem Toten mit auf den Weg ins Jenseits geben wollen. Das alles hat einen Klang. Der katholische Text hat eine Dignität, die überkonfessionell wirkt.

Wie wurde aus dem Leben und Werk von Hieronymus Bosch in Ihrem Requiem Musik?

Ich habe keineswegs die Bilder von Hieronymus Bosch vertont. Es geht nicht um seine Malerei, es geht um eine bestimmte Auffassung vom Tod, die Bosch gelebt hatte, um das Verhältnis einer einzelnen menschlichen Seele zum Tod. Bosch war ein sehr gläubiger Mensch und in der Hierarchie seiner niederländischen Heimatstadt ’s-Hertogenbosch sehr hoch angesehen. Er war Ratsherr und hat zum Beispiel die Schwanenbruderschaft, die heute noch existiert, mitgegründet. Kennzeichnend für ihn und sein Zeitalter – und aktuell für uns heute – war die enorme Todesfurcht, die Angst, etwas falsch zu machen und in die Hölle zu kommen. Mein Werk ist deshalb ein Nachdenken über eine moralische Haltung. Was wir am Beginn hören, ist eine Seele im Fegefeuer. Und auch im weiteren Verlauf hören wir Bosch niemals selber, sondern nur die Anklagen, die der Erzengel Michael gegen ihn erhebt. Die Grundsituation, die ich mir ausgedacht habe, ist: Es gibt die Anklage der sieben Todsünden, und es gibt das siebenteilige Requiem, das ihn freispricht. Ich habe Texte gesucht, die neben dem mittelalterlichen Requiem-Text adäquat bestehen können, und wurde fündig in hoch- und frühmittelalterlicher Dichtung, die Bosch bekannt sein konnte.

Die Gliederung Ihres Werkes durch die Requiem-Abschnitte und eben die sieben Todsünden fällt in der Tat sofort auf: Völlerei, Zorn, Neid, Trägheit, Hochmut, Wollust und Habgier werden alle thematisiert. Spielen diese Todsünden aus Ihrer Sicht in unserer heutigen liberalen Gesellschaft überhaupt noch eine Rolle?

Sie spielen heute noch eine absolut große Rolle, sie haben sich überhaupt nicht verändert, nur ihr Name und der Umgang ist anders. Nehmen Sie die Völlerei: Man muss sich nicht unbedingt einen Dickwanst vorstellen, der sich Würste ins Maul stopft, wie Bosch es tat, aber denken Sie an eine völlig abgehobene Neureichenkaste, die an der Cote d'Azur Champagnerbäder nimmt und sich mit Hummern bewirft. Oder nehmen Sie unsere Wegwerfgesellschaft, die wir ebenso in Bezug zur Todsünde Völlerei sehen können. Die sieben Todsünden kommen nicht nur aus der christlichen Moralphilosophie, sondern auch aus der jüdischen oder wahrscheinlich sogar schon aus der babylonischen oder assyrischen Überlieferung. Das Nachdenken darüber, was gut und was schlecht ist, hat die Menschheit also seit Jahrtausenden beschäftigt und tut es noch heute.

Aber ist Moral heute nicht viel zu sehr individualisiert? Und ist – abgesehen von juristischen Einschränkungen – insofern nicht »alles erlaubt«, wie es hedonistisch heißt?

Genau das ist nicht der Fall. Die Gesellschaft heute erlaubt eben nicht alles. Es gibt immer noch Tabus, nur zeigen sie sich in anderer Form. Nehmen Sie die #Metoo-Diskussion: Es gibt offenbar ganz klare Moralvorstellungen. Oder nehmen Sie eine Statistik aus dem Kaiserreich, die belegt, dass es damals dreimal so viele Rohheitsdelikte wie heute gab. Heute empören wir uns, es werde viel Gewalt ausgeübt, aber in der sogenannte guten alten Zeit war es die dreifache Menge. Moralkodizes werden immer noch sozial weitergegeben, das ist keine Frage. Sie variieren sich.

Doch wie genau wird bei Ihnen nun aus Neid, Hochmut oder anderen Todsünden Musik?

Um es simpel zu beschreiben: Man stelle sich vor, man sei in einer Kriminalverhandlung. Man wird sieben Verbrechen angeklagt, die alle detailreich geschildert werden. Zum Teil übrigens sehr angenehm. Beispielsweise beschreibt ein Duett von Solo-Sopran und Solo-Alt die Trägheit, eine sehr süße Sünde, die jedem von uns bekannt sein dürfte. Ich male das im Grunde so wie in den vergangenen vier Jahrhunderten Komponisten Texte gemalt haben – etwa durch die Übersetzung von rhetorischen Gesten oder durch das Nachzeichnen von Stimmungen. Neue Musik beruht ja auch auf dieser Tradition, man kann es nur nicht mehr so schnell entziffern, das ist der einzige Unterschied. Und etwa für die seelischen Zustände, die wir durch Freud entdeckt haben – Hysterie oder Angst (das große Schönberg-Thema) – hat die Neue Musik sehr beeindruckende Mittel gefunden. Mein Ziel war letztlich, mit meinen Klängen die sieben Todsünden als auch die Inhalte des Requiems mit einer neuen Dringlichkeit zu erfüllen. Die verwendeten Texte sind für mich ein Resümee der Erfahrungen von vielen Generationen. Ich möchte erzählen, dass diese Themen hochaktuell sind.

Jüngst haben die Symphoniker Dvořáks Requiem aufgeführt. Ich hatte den Eindruck, die Zuhörer, die nach eineinhalb konzentrierten Stunden stehend applaudierten, waren regelrecht ergriffen. Offenbar hat die Requiem-Tradition heute noch absolut Bestand. Beziehen Sie sich in irgendeiner Form auf Mozart, Verdi oder Dvořák?

Nein, überhaupt nicht. Dennoch macht man bestimmte Dinge immer ähnlich. „Dies irae“ ist natürlich eine chaotische, laute Angelegenheit, etwas Furchtbares, eine abgrundtiefe Schreckenswelt. Aber Sie sehen ja schon, wie unterschiedlich die von Ihnen genannten Komponisten dies dann doch gehandhabt haben. Ich füge dem meine eigene Version hinzu: Eine Folge von Schreien im Chor auf einem völlig abstrakten Akkord.

In der orchestralen Besetzung Ihres Requiems verwenden Sie einen Haupt- und einen Fernchor. Ersterer übernimmt zusammen mit dem Orchester und den Sängersolisten zunächst die Todsünden, letzterer mit der Orgel das Requiem, wobei sich die Rollen im Laufe des Stückes umkehren.

Richtig. Zunächst sind die Rollen streng verteilt, im Lauf des Stücks überkreuzen sie sich, es gibt Stücke, in denen respondiert wird, oder andere, in denen zusammengesungen wird. Der Schluss „In Paradisum“ gehört dann beiden Gruppen.

Hat die Umkehrung der Rollen eine rein ästhetische Funktion oder auch eine inhaltliche Bedeutung?

Natürlich. Es geht hier um das langsame Zusammenbrechen der Anklage des „Staatsanwalts“ Erzengel Michael, er merkt, dass er der verlorenen Seele, die vor ihm steht, nicht beikommen wird und dass sie das Paradies gewinnen kann. Das hört man sehr deutlich in den Nummern 16 und 17.

Herr Glanert, Sie sind einer von wenigen zeitgenössischen Komponisten, die weltweit aufgeführt werden. Wie beurteilen Sie die aktuellen Bedingungen: Haben wir eine gute Zeit für zeitgenössische Komponisten?

Ich muss leider sagen, dass es eine schlechte Zeit für Neue Musik ist. Die meisten Veranstalter stehen unter enormen Finanzdruck und fürchten das Risiko. Neue Musik ist immer das noch nicht Erfahrene, noch nicht Akklamierte, noch nicht Gekannte und das Publikum neigt immer mehr dazu, die Affirmation zu wollen – mit löblichen Ausnahmen. In den deutschen Opernspielplänen zum Beispiel ist in den letzten Jahren ein radikaler Rückgang von neuen Stücken zu beobachten. Wenn man auf dem Spielplan ein neues Stück sieht, geht man nicht hin, man gibt seine Karte zurück. Das ist bedauerlich.

Was bedeutet es für Sie als gebürtiger Hamburger, nun mit einem neuen Werk in Ihrer Heimatstadt aufgeführt zu werden?

Es freut mich sehr! Aber es ist eine heikle Frage, denn leider habe ich eine ähnliche Erfahrung wie Brahms zu seinen Lebzeiten gemacht. Ich habe überall Aufführungen, aber fast nie in Hamburg. Und wenn, dann waren sie von Unglück begleitet – Pannen, kranke Sänger und Ähnliches. Nun hoffe ich auf eine Umkehrung des Fluches. (lacht)

Das Gespräch führte Olaf Dittmann

Detlev Glanert
Detlev Glanert

Historie

28.11.2017 - Requiem für Hieronymus Bosch

Detlev Glanert Requiem für Hieronymus Bosch

Markus Stenz Dirigent

Aga Mikolaj, Ursula Hesse von den Steinen, Gerhard Siegel, Nathan Berg, Leo van Doeselaar, Ernst Stötzner