Tiefe, nahezu drohende Streicherklänge entführen uns nach der Pause in unheimlichere Welten: Es dauert einige Takte, bis sich aus der um sich selbst kreisenden Figur Bewegungen ergeben, bis der Tonumfang wächst. Ein Moderato-Satz voll düsterer Erhabenheit und wilder Ausweglosigkeit. Warum?
Was bei Tschaikowsky nicht immer angemessen ist – das Deuten der Musik aus der Komponisten-Geschichte heraus – ist bei Schostakowitsch nahezu unerlässlich. Unter welchen Eindrücken entstand also seine Zehnte? Acht Jahre lang hatte er keine Symphonie zu Papier gebracht. Erst kurz nach Stalins Tod machte er sich wieder an die Arbeit.
Sein Opus 93 war dann in erster Linie ein Porträt des Diktators, der dem wohl wichtigsten Komponisten der Sowjetunion die Arbeit überaus schwer gemacht hatte. Und zwar ein zutiefst dunkles, tragisches Porträt: Natürlich ist es kein Zufall, dass Schostawitsch gleich mehrfach Bezug nimmt auf die 80 Jahre zuvor entstandene Oper »Boris Godunow« von Modest Mussorgsky. Denn der gleichnamige Zar war um 1600 ein brutaler Ursurpator, und schon im ersten Satz übernimmt Schostakowitsch ausgerechnet Teile des Wahnsinns-Themas aus Mussorgskys Werk.
Das folgende Allegro ist kurz – ein kürzeres Scherzo findet sich bei Schostakowitsch nicht. Aber es ist ungeheuer ausdrucksstark: Diesen zweiten Satz als persönliche Abrechnung des Komponisten mit Stalin zu verstehen, ist keineswegs falsch; sein Sohn Maxim meint, er beschreibe »das schreckliche Gesicht Stalins«. Das erste Thema entstammt ebenfalls dem »Boris Godunow«. Stampfend und zugleich äußerst gehetzt entwickelt dieser Satz einen gewaltigen Sog. Das ist Musik gewordener Schmerz.
Sehr persönlich wird es dann im Allegretto. Zum einen benutzt Schostakowitsch hier die Tonfolge seiner Initialen D-Es-C-H und zum anderen wieder ein Zitat aus »Boris Godunow«: In diesem Falle mit Bezug auf die Figur eines Mönches, der verkündet, »dass Russland sich einen Mörder zum Herrscher erkor«. (Außerdem setzt Schostakowitsch mit einer weiteren Tonkombination seiner geliebten Schülerin Elmira Nasirova ein Denkmal.)
09.10.2016 - Monumente
Dirigent: Marcus Bosch
Klavier: Yevgeny Sudbin