Magnificat D-Dur BWV 243

Musik ist zeitlos, also den Fragen jeglicher Zeit, auch der Jetztzeit, enthoben. Ein Orchester agiert deshalb der Welt entrückt. Ergo: Ein Konzert ist dazu da, den Alltag zu vergessen.

Selbst in der neuen Musikstadt Hamburg ist ein solches Denken weit verbreitet. Aber ist das die einzige Wahrheit? Bleibt es gänzlich ohne Folge, wenn ein Chor, dessen junge Mitglieder aus 25 europäischen Nationen stammen, revolutionäre Worte wie diese in den Mund nimmt?: »[Gott] stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen.« Am Tag der Bundestagswahl ist »Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer« eine Aussage, die – so sehr man sich auch bemühte – nicht folgenlos bleiben kann. Dass die Symphoniker Hamburg ihre Zusammenarbeit mit der EuropaChorAkademie heute mit diesen Sätzen starten, ist ein Statement. Und dass Sie heute in die Laeiszhalle gekommen sind, um sie hören, auch.

Als Johann Sebastian Bach vor beinahe 300 Jahren die zwölf Teile des »Magnificat« vertonte, war er sich der revolutionären Kraft bewusst. Im Lukasevangelium preist Maria mit »Magnificat anima mea Dominum« (»Meine Seele preist den Herrn«) die Macht jenes Gottes, welcher sich den Armen und Hungrigen zuwendet und die Mächtigen vom Thron stößt. Oder anders: Sie preist die Macht Gottes, welcher die gesamte soziale Welt aus den Angeln heben kann. (Geht es bei Wahlen im Kern um etwas anderes als das Neu-Überdenken sozialer Verhältnisse?) Der im KZ ermordete Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer befand einst treffend: »Dieses Lied der Maria ist das leidenschaftlichste, wildeste, ja man möchte fast sagen revolutionärste Adventslied, das je gesungen wurde. Es ist nicht die sanfte, zärtliche, verträumte Maria, wie wir sie auf Bildern sehen, sondern es ist die leidenschaftliche, hingerissene, stolze, begeisterte Maria, die hier spricht.« Und schon Luther war ja überzeugt von Bedeutung ebendieses Teils aus dem Stundengebet; er übernahm ihn auf Deutsch in seine Liturgie. (Das Konzert findet statt im Rahmen des Reformationsprojektes zur Lutherdekade, das von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestags gefördert wird).

Zunächst schrieb Bach zum 1. Weihnachtsfeiertag 1723 eine Version in Es-Dur, einige Jahre später transponierte er das dann um vier Sätze verkürzte Werk einen Halbton tiefer nach D-Dur und sorgte hier und da für eine größere harmonische Klarheit. Die Besetzung erinnert an die h-Moll-Messe, mit der die Symphoniker Hamburg die Saison 2015/2016 eröffneten: Auf der einen Seite ein fünfstimmiger Chor, der in folgenden Sätzen in voller Stärke zu hören ist: 1. »Magnificat«, 4. »Omnes generationes«, 7. »Fecit potentiam«, 11. »Sicut locutus est« und 12. »Gloria Patri«, mit dem das »Magnificat« endet. Dazwischen sind die Solisten mal in Solo-Arien, mal im Duett oder Terzett zu erleben: So berichtet der Tenor im 8. Satz »Deposuit potentes« davon, wie Gott die Gewaltigen vom Thron stürzt; und der Alt beschreibt im 9. Teil »Esurientes implevit bonis«, wie die Reichen leer ausgehen. Spannend ist der 11. Satz mit einer fünfstimmigen Fuge, die der Chor ohne Orchester vorträgt.

Auf der anderen Seite ist auch das Orchester vergleichsweise stark, beispielsweise mit drei Trompeten in der Bläsergruppe, besetzt: Der erste und der letzte Satz strahlen festlich im Tutti. Bach sorgt für einen dem Feiertag angemessenen Überwältigungs-Sound. Oder bahnt sich darin der revolutionäre Geist Bahn? (Ein Text von Olaf Dittmann)

Johann Sebastian Bach
Johann Sebastian Bach