Entstehung: 1923
Uraufführung: 4. Juni 1924 in Prag (unter der Leitung des Komponisten)
Spieldauer: ca. 45 Minuten
Sieben Jahre nach Szymanowskis Violinkonzert schrieb Alexander von Zemlinsky seine Lyrische Symphonie – neben seinen Opern wohl sein wichtigstes Werk. Der Erste Weltkrieg hatte das alte Europa niedergewalzt; Monarchien waren durch Republiken ersetzt worden; Arnold Schönberg (übrigens ein Schüler und Schwager Zemlinskys) hatte »seine« Zwölftontechnik ausgearbeitet; die Dekadenz des Fin de Siècle war längst zur fernen Erinnerung verblasst. Eine Zeitenwende allerorten also. Doch was brachte Zemlinsky da zu Papier? Sein Opus 18 ist weit weniger modern als Szymanowskis Konzert. Es blickt zurück. Und beschwört Vergangenes.
Zemlinsky, der 1871 in Wien geboren und im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts von Gustav Mahler an die dortige Hofoper geholt wurde, arbeitete zu Beginn der 1920er-Jahre als musikalischer Leiter des Neuen Deutschen Theaters in Prag – eine Aufgabe, die ihn nicht ganz befriedigte. (Später ging er nach Berlin, kehrte 1933 nach Wien zurück und starb 1942 einsam im New Yorker Exil.) »Mir fehlt sicherlich das gewisse Etwas, das man haben muss – und heute mehr denn je – um ganz nach vorne zu kommen«, schrieb er 1930 an Alma Mahler-Werfel, die Witwe seines einstigen Helfers, in die er früher unglücklich verliebt gewesen war.
Für die unüberhörbare Nähe der Lyrischen Symphonie zu Gustav Mahlers »Lied von der Erde«, die Zemlinsky selbst in einem Brief andeutete, gibt es also gleich mehrere biografische Gründe. Jedoch entspricht sie natürlich auch einem Teil des Zeitgeists: Die Veränderungen jener Jahre waren so umfassend, dass mancher Zeitgenosse die ästhetische Flucht nach hinten (und in die Ferne) suchte. Ähnlich wie Mahler wählte Zemlinsky eine exotische literarische Vorlage: Der für die Literatur Asiens überaus bedeutende bengalische Nobelpreisträger Rabindranath Tagore, der zu jener Zeit auch einmal in Prag auftrat, hatte einige Gedichte verfasst, die von Hans Effenberger ins Deutsche übertragen und in der hier vorliegenden Reihenfolge durchaus einen dramaturgischen Bogen spannen. »Die innere Zusammengehörigkeit der sieben Gesänge mit ihren Vor- und Zwischenspielen, die alle ein und denselben tiefernsten, leidenschaftlichen Grundton haben, muss bei richtiger Erfassung und Ausführung einwandfrei zur Geltung kommen«, so Zemlinsky damals. Es entsteht ein Dialog von Männer- und Frauenstimme, eine Geschichte von Sehnsucht, erfüllter Liebe und Abschied. Der alte romantische Dualismus von Welt und Traum, Tag und Nacht, Pflicht und Leidenschaft grundiert die Stimmung.
Der erste Gesang »Ich bin friedlos, ich bin durstig nach fernen Dingen« gibt, so Zemlinsky, die sehnsuchtsvolle Richtung für die gesamte Symphonie vor. Der zweite Gesang »Mutter, der junge Prinz muss an unsrer Türe vorbeikommen« ist eine Art Symphonie-Scherzo und darf ausnahmsweise heiter, mitunter beinahe scherzhaft verstanden werden. An dritter Stelle folgt »Du bist die Abendwolke«, der sich als Adagio in die Symphoniestruktur einfügt; zusammen mit dem vierten Gesang »Sprich zu mir Geliebter« entsteht ein Bild der beinahe seligen Verbindung der Liebenden. Doch »Befrei mich von den Banden deiner Süße, Lieb!« weiß schon von der Trennung. Erstaunlicherweise ist dies aber kein dunkler musikalischer Abgrund, sondern vielmehr ein Höhepunkt. Und der sechste Gesang »Vollende denn das letzte Lied« leitet zum Abschluss »Friede, mein Herz« über, welcher der Seele trotz des Trennungsschmerzes Frieden verschafft.
Wir haben es also mit einer »runden« Gestaltung samt Leitmotiven und »Happy End« zu tun. Hier bleibt nichts – oder zumindest nicht alles – im Schemenhaften. Man ist versucht, von einem musikalischen, asketischen »Trost« zu sprechen – wenn es so etwas denn überhaupt gibt: Die Liebe endet nicht in garstiger Seelenpein, sondern erfährt eine Metamorphose zum Transzendenten. Allerdings ist diese Art der musikalischen Rückbesinnung freilich eine ganz andere als etwa die der Wiener Klassik auf die Antike. Denn wenn Zemlinsky sich mit diesem erst in den 1970er-Jahren wiederentdeckten Werk der musikalischen Spätromantik verpflichtet zeigt, nimmt er Bezug auf eine Epoche, die ihre eigene Auflösung ja selbst schon in sich trug. Hier gibt es keinen fixen »State of the Art« mehr, hier ist alles im Werden, in Veränderung. Der Wandel ist beständig. (Und eben dies gehört im Kern zum Selbstverständnis der Symphoniker Hamburg, des denkenden Orchesters.)
26.05.2019 - Traum und Wirklichkeit
Lorenzo Viotti Dirigent
Guy Braunstein, Emily Magee, Bo Skovhus
Werke von Szymanowski und Zemlinsky