An American Overture

Wie schafft es ein Werk ins Konzertprogramm der Symphoniker Hamburg? Die Art, in der das Laeiszhalle Orchester die Auswahl trifft, unterscheidet sich vom üblichen Vorgehen der allermeisten Konzertorchester. Ein Musikstück findet nicht etwa den Weg ins Programm, weil es schon lange nicht mehr gespielt wurde. Sondern weil es zur gedanklichen Rahmung des Konzertes, des aktuellen Symphoniker-Projektes oder der Saison sowie zu Ort, Zeit und Interpret passt. Für den Ideenreichtum bei der Programmauswahl wurde das Orchester, das sich selbst als ein »denkendes«, also der Reflexion über seine Zeit verpflichtetes versteht, schon oft gerühmt. Eines von mehreren möglichen Ergebnissen dieser Auswahl-Arbeit sind Abende, die sich auf die Musik eines Landes konzentrieren. Unter dem Motto »Dreams of America« geht die Reise heute in die USA.

Als die Symphoniker Hamburg im Frühjahr 2016 mit Kurt Weill, Aaron Copland und Antonín Dvořák zuletzt auf die Musik der »neuen Welt« blickten, war der Präsidentschafts-Wahlkampf in den USA noch in vollem Gange. Was hat sich seither getan! Das »anything goes«, also der Schlachtruf für die individuelle Freiheit, für die unbegrenzten Möglichkeiten ist bis ins Extrem pervertiert. »Alles ist möglich« bedeutet heute: Wirklich alles. Niemals für möglich gehaltene politische Niveaulosigkeiten, Bereicherungen einer neufeudalen Superreichenklasse auf Kosten einer verarmten Mehrheit sowie rassistische, sexistische, unmenschliche Äußerungen der mächtigsten Person der Welt. Mischte sich bisher Faszination in den oft staunenden europäischen Blick Richtung Westen, so ist es heute nur noch angsterfüllte Lust an täglich neuen Skandal-Sensationen. Kann der Fokus auf US-amerikanische Musik des 20. Jahrhunderts in dieser Situation helfen? Eine berechtigte Frage – ohne zufriedenstellende Antwort. Möglich, dass die Quintessenz des heutigen Konzertes lediglich (oder: immerhin?) eine zarte Melancholie ist: Die Werke dieses Abends verweisen darauf, dass es Zeiten gab, in denen so etwas wie Komplexität dank Gefühlsreichtum über den Atlantik zu uns gelangte.

Los geht es nicht mit einem US-Amerikaner, aber mit einem damals dort lebenden Briten. Der 1913 in Lowestoft geborene Benjamin Britten reiste im April 1939 nach Nordamerika, wo er drei Jahre lang blieb. So manches Werk komponierte er in dieser Zeit, im Oktober 1941 auch die etwa zehnminütige »American Overture«, die allerdings in Vergessenheit geriet, 1972 in einer Bibliothek gefunden und erst nach dem Tod des Komponisten uraufgeführt wurde. Was macht Britten hier? Einerseits bringt er uns ganz schön durcheinander, indem er beispielsweise einen 5/2-Takt auf einen 4/2-Takt folgen lässt. Ein langsamer Marsch wird so zu einer holperigen, bisweilen drohenden Angelegenheit. Auch meint man, Großstadtstress herauszuhören, wenn Britten mit Synkopen und Jazz-Figuren experimentiert. Andererseits bleibt er seiner Linie treu: Er verlässt nicht die vertrauten Gewässer der Tonalität. Zwölfton- oder serielle Musik sind seine Sache nicht. »Ich glaube, ein Künstler sollte ein Teil seiner Gesellschaft sein, sollte für sie arbeiten und vor ihr gebraucht werden. Während der letzten 100 Jahre ist das immer seltener geworden, und das Ergebnis ist, dass der Künstler ebenso darunter gelitten hat wie die Gesellschaft«, lautet eines seiner bekanntesten, treffenden Zitate.
Benjamin Britten
Benjamin Britten

Historie

21.01.2018 - Dreams of America

Eivind Gullberg Jensen Dirigent

Adrian Iliescu Violine

Werke von Britten, Conus, Barber und Bernstein