Ein rein französisches Programm. Das wollte Chefdirigent Sir Jeffrey Tate zum Abschluss der Saison 2016/2017 präsentieren. Er mochte das. Konzertabende etwa mit Werken von ausschließlich englischen oder skandinavischen Komponisten. Und im Juni dieses Sommers also nur Franzosen. Doch Sir Jeffrey starb wenige Wochen zuvor. Schweren Herzen änderten die Symphoniker Hamburg das Programm und machten aus dem französischen Abend ein Abschiedskonzert. Als dann neben manchen anderen auch das 2. Symphoniekonzert der neuen Saison umbesetzt werden musste, hatte der französische Dirigent Sylvain Cambreling die Idee, das (in zweifacher Hinsicht) ausgefallene Programm zu wiederholen – im Andenken an seinen verstorbenen Freund. Eine brillante Idee, Sir Jeffrey hätte sie geliebt.
Und sie gibt uns Gelegenheit, einen musikalischen Blick ins Nachbarland zu werfen. Einen Blick, der über rein Ästhetisches hinausgehen dürfte. Was macht eigentlich Frankreich? Wie geht es der Grande Nation? Unsere Nachbarn haben einen neuen Präsidenten. Das ist bekannt. Doch wie geht es ihnen kulturell? Wie klingt ihre Seele? Davon wissen wir gar nicht so viel. Vor gut einem Jahr sagte sich das Vereinigte Königreich in der so genannten Brexit-Abstimmung von der EU los. (Eine Entscheidung, die Sir Jeffrey übrigens sehr beunruhigt hatte.) Und seitdem werden die Stimmen lauter, dass wir den Blick umso stärker nach Frankreich richten müssen, je mehr die Europäische Einigung in Gefahr ist. Müssen Deutschland und Frankreich politisch noch enger zusammenarbeiten? Sollen die Kinder Französisch als erste Fremdsprache lernen?
Die Symphoniker Hamburg vermögen derlei Fragen natürlich nicht abschließend zu beantworten. Doch sie verstehen sich als ein »denkendes Orchester«, also als eines, das an den Fragen der Jetztzeit mit offenen Ohren interessiert ist. Und so nehmen wir heute den kulturellen Kern der Franzosen ein wenig unter die Lupe. Leben wir einen Abend wie die Menschen in Frankreich. Tun wir für zwei Stunden so, als wüssten wir ganz genau, wie das geht, das Savoir-vivre. Das Spannende dabei ist, dass nahezu alles, was die französische klassische Musik seit gut 100 Jahren ausmacht, in dem Programm enthalten ist: Um die Jahrhundertwende sorgte der Impressionismus u. a. mit Claude Debussy international für Aufsehen. Henri Dutilleux
war im 20. Jahrhundert einer der Individualisten, die sich vom Impressionismus wieder verabschiedeten. Und unser Zeitgenosse Marc-André Dalbavie sammelte dann bei Pierre Boulez und im musikalisch-akustischen Forschungszentrum IRCAM lehrreiche Erfahrungen.
Los geht es mit Henri Dutilleux, den Sir Jeffrey als „eine der wichtigsten Figuren des 20. Jahrhunderts in der Musik“ hochschätzte. Er war Chorleiter an der Pariser Oper, Leiter der Musikproduktionen beim Radiosender ORTF und Hochschullehrer. Sein kompositorisches Werk war zunächst erkennbar von Maurice Ravel beeinflusst, dann schuf er zahlreiche Instrumentalwerke, denen das Prinzip steter Variation zugrundeliegt und die neue, individuelle Richtungen einschlugen. Mit seiner dreisätzigen, etwa eine halbe Stunde langen Doppelsymphonie, die als Auftragswerk zum 75. Geburtstag des Boston Symphony Orchesters entstand, wagte er in den musikalisch mutigen 50er-Jahren ein Experiment: Wie Solist und Tutti agieren ein großer und ein kleiner Orchesterapparat voneinander getrennt. Zum einen also ein Orchester in gewohnter Größe, zum anderen ein zwölfköpfiges Ensemble, das sich aus Oboe, Klarinette, Fagott, Trompete, Posaune, zwei Geigen, Bratsche, Cello, Cembalo, Celesta und Pauke zusammensetzt. Barockfreunde wissen es: Vor langer Zeit gab es mit dem Concerto grosso schon einmal eine ähnliche Konstellation – eine kleine Gruppe von Instrumentalisten gegenüber einem großen Tutti. Doch Dutilleux behandelt seine beiden Gruppen anders. Er betonte: »Ich wollte der strengen Form entfliehen, die kaum zur heutigen Sprache passt.« Er lässt die Gruppen mal gleiche Linien spielen; mal agiert die kleinere wie ein Spiegel der größeren; und mal stehen beide in deutlichem Kontrast. Mal ergeben sich hochkomplexe rhythmische Formen oder auch eine Polytonalität, also eine Überlagerung von Tonarten, die mit dem Barock in der Tat nichts mehr gemein hat. Die Aufbruchstimmung der Musik in der Mitte des 20. Jahrhunderts ist deutlich spürbar.
08.10.2017 - Le Double
Sylvain Cambreling Dirigent
Andrei Ioniță Violoncello
Werke von Dutilleux, Dalbavie und Debussy