Osvaldo Golijov wuchs in einem russisch-jüdischen Elternhaus in La Plata, Argentinien auf. Seit 1986 in den USA lebend, ist seine 1994 veröffentlichte fünfteilige Suite »The Dreams and Prayers of Isaac the Blind« eine der ersten vielbeachteten Kompositionen, die ihm internationale Aufmerksamkeit verschaffte. Die Fassung für Klarinette und Streichquartett wurde 1994 beim Schleswig-Holstein Musikfestival mit dem Klarinettisten Giora Feidman uraufgeführt. Heute Abend hören wir ein großes Streichorchester anstelle des Quartetts.
Die Suite erzählt von Isaak dem Blinden, der um 1200 in Südfrankreich lebte und die Kabbala, eine mystische Tradition des Judentums, mitbegründete – auch wenn die heute populäre Form der Kabbala wenig mit ihrem jüdischen Original zu tun hat. Isaaks Grundgedanke war, dass unsere gesamte Welt auf dem hebräischen Alphabet aufbaue und jedes Ding eine Kombination dessen darstelle. Golijov möchte mit seiner Suite jedoch auch eine Art Geschichte des Judentums erzählen, von den Anfängen bei Abraham bis zum heutigen Schicksal. Und so atmet dieses Werk die jüdische Seele in Form des Klezmer, hat jedoch unverkennbar weitere Einflüsse: Man hört zuweilen die schroffe Modernität der Avantgarde, aber auch sanfte und tonale Klangbilder, die bei Filmmusik zur Anwendung kommen; der Tango nuevo hat seine Spuren hinterlassen genau wie die Einflüsse Igor Strawinskys oder Astor Piazzollas.
»The Dreams and Prayers of Isaac the Blind« ist weitgehend tonal gehalten und voller kontrastierender Spannung. Die Begleitmotive sind oft rhythmisch akzentuiert: Hier kommt das lateinamerikanische Feuer des Komponisten zum Tragen. Doch lebt die Suite vom lebendigen Vortrag der Soloklarinette, die den Solisten technisch, aber vor allem emotional herausfordert. All die Dramatik und Schwere, das Leid und der Schmerz des jüdischen Volkes wird hier in dessen Hände gelegt. Die Klarinette tritt mal als Klagestimme auf, mal als bedrohlicher Bordun oder als deklamatorische Erzählerin. Sie singt, koloriert, seufzt, lacht und weint: Die Suite schöpft die Möglichkeiten dieses Instruments weit aus. Fordernd für den Solisten, der seine volle Leidenschaft in die Auserzählung legen muss. Und damit wie geschaffen für David Orlowsky, der seine Klarinette so gekonnt in verschiedensten Nuancen singen und erzählen lässt.
Sphärisch beginnt das Präludium der Suite und erinnert an gemächlich aufbauende Einleitungen in großen Filmepen. Die Klarinette erhebt im Klezmer-Stil selbstbewusst ihre Stimme und vermischt sich mit den Streichern zu einem spannungsgeladenen, impressionistisch beeinflussten Klangbild mit langsam mäandernder Harmonik. Nicht ohne Leiden- schaft erzählend, wird hier ein erstes Stimmungsbild gezeichnet.
Im ersten Satz sind die Tango-nuevo-Einflüsse deutlich. Wie ein immer schnellerer Puls setzen sich die Achtel-Ostinati der Streichinstrumente in Bewegung. Expressiv lotet die Klarinette tiefste und höchste Register aus und führt je nach Lesart in die höheren Geheimnisse der Kabbala oder der mystischen und dramatischen Anfänge des Judentums ein. Das zärtliche Klagelied der Klarinette im zweiten Satz – zuerst solo, dann im Zwiegespräch mit der Violine – steht ganz im Zeichen der Klezmer-Tradition, nimmt jedoch an Intensität und ekstatischem Charakter zu und mündet in eine wilde, anspruchsvolle, enthemmte Reise durch jüdisch-osteuropäische Klanglandschaften: Die typisch »freygische« Tonleiter (phrygisch mit großer Terz als dritter Stufe) kommt hier ganz zur Entfaltung. Man meint hier, fieberhafte Wahnvorstellungen Isaaks herauszuhören, gepaart mit hellen Momenten voller Erleuchtung.
Wie ein sich langsam aufbauendes Tongemälde eröffnet der dritte Satz mit subtiler Spannung. Flüsternde Violinen und die langsame Deklamatorik der Soloklarinette im tiefen Register kündigen den Höhepunkt der ganzen Suite an. Ein einfaches viertöniges Thema wird stets wiederholt und nimmt schließlich bis zum großen Finale an Fahrt auf, das sich wie eine schrecklich-schöne Offenbarung langsam, dann immer schneller entlädt und grandios leuchtet: Ist das die Geburt der Kabbala, die Erleuchtung Isaaks oder gar die Offenbarung Gottes? Der versöhnliche Ausklang lässt das Geschehene Revue passieren und bietet Raum zum Durchatmen und Erholen. War alles nur ein Traum, eine Einbildung? Vielleicht ist es auch ein Ausblick: Auf die leidvolle Geschichte des Judentums seit dem Mittelalter.
08.12.2019 - Senkfenster: Golijov und Rachmaninow
James Feddeck Dirigent
David Orlowsky Klarinette