»Die Natur ist nicht nur schön und nett, sondern manchmal auch sehr grausam.« Wenn ein Komponist wie Toshio Hosokawa, der in seiner Arbeit stets die Harmonie zwischen Natur und Mensch sucht, einen solchen Satz sagt, spürt man sofort seine Erschütterung. Er bezog diese Aussage vor zehn Jahren auf die Fukushima-Nuklearkatastrophe in seinem Heimatland Japan: »Der Tsunami von 2011 war ein großer Schock für mich. [...] Wir Japaner haben wohl die Ehrfurcht vor der Natur verloren.« Doch lässt sie sich problemlos auf die Jahre 2020 und 2021 übertragen, in denen die Natur in Form eines wohl erst durch menschliches Handeln gefährlich gewordenen Virus’ ihre grausame Seite zeigt. (Und eine finale Antwort auf die Frage, wieviel Ehrfurcht wir davor haben, ist bekanntlich noch nicht gefunden.)
In der Rückschau beschreibt Toshio Hosokawa die Rahmung seines Werks: »Am 11. März 2011 erlebte Japan eine gewaltige Katastrophe. Ein Tsunami erfasste die nordöstliche Küste, nachdem ein Erdbeben das Gebiet erschüttert hatte. Tausende Menschen starben, das Alltagsleben zahlloser Japaner wurde zerstört, kurz darauf explodierten die Fukushima-Atomanlagen und gefährdeten das Leben der Menschen in dieser Region. Bis heute leiden viele unter den Folgen der radioaktiven Strahlung. Mein Werk ist den Opfern des Tohoku-Erdbebens gewidmet.«
Der 1955 in Hiroshima geborene Hosokawa, der in Berlin und Freiburg studierte, sehr oft bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt zu erleben war und seit Langem als einer der bedeutendsten Komponisten Japans gilt, hat die Schmerzen seiner Heimatstadt mehrfach in Klänge verwandelt. Beeinflusst vom Zen-Buddhismus und zugleich von europäischen Musiktraditionen (etwa von Schubert und Webern) sind seine Ziele der Brückenbau zwischen Ost und West sowie das Erkunden des Zusammenspiels von Kosmos, Leben und Natur. In dem im März 2012 uraufgeführten Stück »Meditation to the victims of Tsunami (3.11)« hören wir die unterschiedlichen Formen, die vertonter Schmerz annehmen kann: mal als scharfe Streicher-Schreie, mal als expressive Schlagwerk-Ausbrüche, mal als laute Cluster – und mal als Stille. Zudem hat Hosokawa den sechs Abschnitten seines Werks Überschriften gegeben, die, wer mag, als Höranleitung verstehen kann: Takt der Erde, Kalligraphie, Meditation, Elegie, Furcht, Beten. Was aber eher der Musik abzulauschen als derlei Worten abzulesen ist, ist der seelisch-therapeutische und durchaus hoffnungsvolle Bogen: Hosokawa ist davon überzeugt, dass sich Menschen, sofern sie Leid teilen, auch aus tiefstem Schmerz befreien können.
05.12.2021 - Föhnwolken der Ferne
Sylvain Cambreling, Lucas Debargue
Werke von Hosokawa, Saint-Saëns und Bizet