Alexander Meier-Dörzenbach
Alle Aussagen der Künstler stammen originär aus ihrer eigenen Feder und sind in zahlreichen Schriften, Briefen, Memoiren, Interviews, Traktaten und anderen Textformen zu finden; sie wurden hier zur Leseerleichterung lediglich orthografisch angepasst.
Wenn man den Kassenbereich der Laeiszhalle mittig über die ersten Treppenstufen hinauf Richtung Saal verlässt, erwartet einen – in Marmor eingelassen – das Stifterehepaar Carl und Sophie Laeisz in bronzenem Relief. Heute jedoch zuckt die wellige Haarpracht von Sophie, die aufgrund ihrer Hochsteckfrisur den Spitznamen Pudel trug. Die Frisur knurrt sogar, und plötzlich springt das Lockengewirk auf die Stufen und sitzt als plastischer Pudel analog zu seiner Statue auf dem Dach des Laeiszhofs. Das allerdings nicht lange, denn Geheimrat Goethe kommt aus dem Zimmer des Intendanten, den er öfters besucht, und ein besonderes Treffen nimmt seinen Lauf ...
Pudel Wuff, ... grrrrrrrrr ...
Goethe (mit geballter Faust theatral rezitierend)
Knurre nicht, Pudel! Zu den heiligen Tönen,
Die jetzt meine ganze Seel umfassen,
Will der tierische Laut nicht passen.
Wir sind gewohnt, dass die Menschen verhöhnen,
Was sie nicht verstehn,
Dass sie vor dem Guten und Schönen,
Das ihnen oft beschwerlich ist, murren;
Will es der Hund, wie sie, beknurren?
Pudel (verwandelt sich erwartungsgemäß in einen fahrenden Skolasten)
Nun gut – so werde ich in der ausladenden Hülle von Alexander Meier-Dörzenbach in verständlicher, wenn auch dramaturgisch leicht belehrender Weise sprechen, bevor wir den Kasus und des Pudels Kern aus den Augen verlieren.
(Er dreht sich um und sieht auf den Stufen – zum Teil nur marmorköpfig aus ihren Foyer-Nischen hervorgetreten – links platziert: Ludwig van Beethoven, Robert Schumann und Bernd Alois Zimmermann; weiter oben stehen Joseph Haydn, Johannes Brahms in Klinger’scher Musenpracht, Olivier Messiaen und Hector Berlioz; rechts über Sophies Kopf sind aufgereiht die Büste Gustav Mahlers ohne Zwicker, Dmitri Schostakowitsch, Gabriel Fauré, Peter Tschaikowsky, Felix Mendelssohn Bartholdy, Arnold Schönberg; ganz oben Edvard Grieg und nahe den leckeren Häppchen Gioachino Rossini.)
AMD
Es ist mir eine Freude, verehrte Maestri, Sie hier so gesellig anachronistisch beisammen zu finden. Ich würde mich sehr gern mit Ihnen über Hoffnung und Kunst und damit das Programm der Symphoniker Hamburg unterhalten, die dieses Jahr ihren 65. Geburtstag feiern. Das Laeiszhalle Orchester hat sich heuer für das Motto »Flügelschlag« entschieden und will damit poetisch einer Hoffnung durch Kunst den Weg weisen.
Beethoven (etwas selbstvergessen)
Die Hoffnung nährt mich, sie nährt ja die halbe Welt, und ich habe sie mein Lebtag zur Nachbarin gehabt, was wäre sonst aus mir geworden?
Brahms
Wozu hat denn der Mensch das himmlische Geschenk, die Hoffnung empfangen?
AMD (laut und deutlich artikulierend)
Hoffnung also als künstlerischer Antrieb – in Ihrem Werk verhandeln Sie, Herr van Beethoven, ja Hoffnung und Ideale auf eine so menschenumfassende Art und Weise, dass man durch die Ohren glauben lernt, dass Kunst zur Freiheit führen kann.
Beethoven
Die Kunst, die verfolgte, findet überall eine Freistatt: erfand doch Dädalus, eingeschlossen im Labyrinth, die Flügel, die ihn oben hinaus in die Luft emporgehoben. O, auch ich werde sie finden, diese Flügel!
AMD
Aber wenn Sie Dädalus erwähnen, müssen wir uns auch den jungen Ikarus vor Augen führen, der so dicht an die Sonne flog, dass seine großen Flügel sich auflösten und er abstürzte. Vielleicht hätte er sich mit beschnittenen Flügeln näher am Erdboden halten sollen?
Schumann (aufgeregt dazwischenfahrend)
Der Jugend sieht man manchmal gern ein Zuviel nach; aber das Beschneiden der Flügel macht Philister, man muss den unsicheren Flug zu lenken verstehen.
AMD
Hoffnung als der durch Kunst gelenkte unsichere Flug des Lebens – genau dafür steht das Motto »Flügelschlag«, Herr Schumann. Hoffnung stirbt ja trotz des so lautenden Sprichworts nicht zuletzt, sondern eigentlich nie. Aber da treffen die Vorstellungen vom Göttlichen auf die Beschränkungen des Menschlichen. Etwas, das wir immer wieder in den Symphonien von Beethoven erleben, von denen wir diese Saison vier auf dem Spielplan haben: die letzten drei und die Fünfte in c-Moll. Sie, verehrter Monsieur Berlioz, haben zwar spät zu Beethoven gefunden, dafür aber umso leidenschaftlicher. Dabei ist es Ihnen jedoch nicht gelungen, Ihren Lehrer, Jean-François Lesueur, der auch Ambroise Thomas und Charles Gounod unterrichtete, von der Genialität Beethovens zu überzeugen, da er kein Konzert mit dessen Symphonien besuchen wollte.
Berlioz
Demungeachtet ruhte ich nicht, redete ihm so viel von der Pflicht vor, die er hätte, eine so außerordentliche Tat, wie den Aufschwung unserer Kunst zu diesem neuen Stil, persönlich kennenzulernen und zu würdigen, sprach so viel über die ungeheure Weite der Formen, dass er sich schließlich an einem Tage, wo Beethovens c-Moll-Sinfonie gespielt wurde, bereit erklärte, mit ins Konservatorium zu gehen. Er wollte gewissenhaft zuhören ohne Zerstreuungen irgendwelcher Art. So setzte er sich denn allein in den Hintergrund einer Loge zu ebener Erde, die von Unbekannten eingenommen ward, und hieß mich gehen. Als die Sinfonie zu Ende war, kam ich von meinem Rang, wo ich Platz genommen, herab, um von Lesueur zu hören, was er empfunden und wie er über die außerordentliche Vorführung dächte. Ich traf ihn in einem Seitengang; er war sehr rot und ging mit langen Schritten auf und ab. »Nun, lieber Meister?« frage ich ... – »Uff! Ich gehe, ich muss Luft haben. Das ist ja unerhört! Wunderbar! Es hat mich so bewegt, verwirrt, aufgewühlt, dass ich dachte, ich würde meinen Kopf nicht mehr finden, als ich, beim Verlassen der Loge, den Hut aufsetzen wollte! Lassen Sie mich allein. Auf morgen ...«
AMD (lacht)
Was für ein köstliches Bild: der verlorene Kopf, der nach dem Hören von Beethovens Fünfter nicht mehr dazu taugt, einen bürgerlichen Hut zu tragen. Das hat Sie sicher gefreut ...
Berlioz (euphorisiert)
Ich frohlockte. Andern Tages beeilte ich mich, ihn aufzusuchen. Die Unterhaltung drehte sich vom ersten Anfang an um das Meisterwerk, das uns so heftig bewegt hatte. Lesueur ließ mich eine Weile reden, meine bewundernden Ausdrücke gezwungen billigend. Aber es war leicht zu sehen, dass ich nicht mehr mit dem Manne von gestern sprach und dass ihm der Gegenstand der Unterhaltung peinlich war. Gleichwohl fuhr ich fort, bis Lesueur, gerade als ich ihm ein neues Geständnis seiner gestrigen tiefen Erregung entlockt hatte, den Kopf schüttelte und mit eigenem Lächeln sagte: »Einerlei, solche Musik muss man nicht schreiben.« – Worauf ich erwiderte: »Seien Sie ruhig, lieber Meister, man wird es nicht oft tun.«
AMD (mit einem Lächeln und wieder etwas lauter)
... und doch haben Sie, lieber Beethoven, es in symphonischen Meisterwerken öfters getan als viele andere, weil ...
Schumann (unterbricht mit wichtiger Miene)
Wie Italien sein Neapel hat, der Franzose seine Revolution, der Engländer seine Schifffahrt etc., so der Deutsche seine Beethoven’schen Symphonien ...
AMD
Wobei es ja um Grenzüberschreitungen geht, und ein Beethoven in seiner Kunst eher die ganze Menschheit anspricht als einzelne Nationen. Auch Sie, Herr Schumann, haben doch in Ihrer vierten Symphonie, die chronologisch gesehen Ihre zweite ist und im 3. VielHarmonie-Konzert am 19. Januar 2023 zu hören sein wird, ein Werk geschaffen, das in enger Themenverknüpfung unter den attacca zu spielenden Sätzen etwas weiterführt.
Tschaikowsky (leicht pathetisch)
Die Musik Schumanns, die organisch an das Werk Beethovens anknüpft und sich gleichzeitig entschieden davon löst, eröffnet uns eine ganze Welt neuer musikalischer Formen.
Schumann (etwas entrückt)
Wie unendlich groß ist das Reich der Formen; was gibt es da noch auszubeuten und zu tun auf Jahrhunderte lang.
AMD
Auch wenn wir Ihr letztes Orchesterwerk, das erst 84 Jahre nach seiner Entstehung uraufgeführte Violinkonzert, am 7. Mai 2023 im 9. Symphoniekonzert hören werden, Herr Schumann, bleiben wir doch bitte zunächst einmal in der Wiener Klassik, bevor wir gen Osten und Gegenwart blicken.
Schumann (mit stolzgeschwellter Brust)
Ein Mann wie Beethoven wiegt allein sechs ausländische Genies auf.
AMD
Dabei hilft die Qualifizierung »ausländisch« nicht, die Not der Menschen zu lindern, denen nach Hoffnung verlangt, da die Nöte globaler Natur sind.
Beethoven (mit einem verschmitzten Grinsen)
Alle meine Noten bringen mich nicht aus den Nöten, und ich schreibe Noten überhaupt nur aus Nöten.
Haydn (mild lächelnd)
Wenn ich aber an Gott denke, ist mein Herz so voll Freude, dass mir die Noten wie von der Spule laufen. Meine Sprache versteht die ganze Welt. Da mir Gott ein fröhliches Herz gegeben hat, wird er mir schon verzeihen, wenn ich ihm fröhlich diene.
Grieg (streicht sich durch seine wilde Mähne)
Mangel an Fröhlichkeit ist meist auch Mangel an Menschlichkeit.
AMD (wendet sich energisch an den Komponisten des 18. Jahrhunderts)
Und menschlich zeigen Sie, Maestro Haydn, beispielsweise in der »Passione« auch eine andere Facette, denn dort haben Sie dem Schmerz Gestalt verliehen. Die in der sehr ungewöhnlichen Tonart f-Moll verfassten Symphonie Nr. 49 wird in der 1. Morgen Musik erklingen. Der Beiname »La Passione«, der sowohl Leidenschaft als auch Leidenszeit bedeutet, stammt nicht von Ihnen, sondern wurde ihr noch zu Ihren Lebzeiten samt unterschiedlichen Legenden über persönlichen Verlust hinzugefügt. Doch gibt es auch Theorien, die behaupten, das Werk diente als Bühnenmusik für ein Theaterstück und erhielt so den Beinamen »Der gutgelaunte Quäker«. Wir wollen am 6. November 2022 die Symphonie nun nicht durch Eindeutigkeiten verkleinern, sondern das exzentrische Stück vielmehr in seiner offenen Intensität hören.
Berlioz (nachdenklich)
Welche Musik wird übrigens jemals Gemeingut der ganzen Welt, ohne Unterschied der Zeit und des Ortes werden können? Ganz sicherlich gar keine.
Zimmermann
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, wie wir wissen, lediglich an ihrer Erscheinung als kosmische Zeit an den Vorgang der Sukzession gebunden. In unserer geistigen Wirklichkeit existiert diese Sukzession jedoch nicht, was eine realere Wirklichkeit besitzt als die uns wohlvertraute Uhr, die ja im Grunde nichts anderes anzeigt, als dass es keine Gegenwart im strengeren Sinne gibt. Die Zeit biegt sich zu einer Kugelgestalt zusammen.
Berlioz (lapidar)
Die Werke der großen deutschen Meister, wie Gluck, Haydn, Mozart und Beethoven, welche sämtlich der katholischen, das heißt der Weltreligion angehörten, werden ebenso wenig als die anderen dieses Ziel erreichen, so wunderbar schön, lebendig, gesund und mächtig sie auch sein mögen.
AMD
Jedoch ermöglicht uns die ästhetische Erfahrung, Entfernungen zu überwinden und auch vermeintlich Altes im Jetzt neu und relevant zu erleben. Die »Schöpfung« von Ihnen, Herr Haydn, beginnt mit dem Chaos und fokussiert nicht auf eine Unordnung, sondern auf den Zustand vor jedweder Ordnung: Aus einer leeren Oktave, einem einzigen Ton aller Instrumente, dem C, entwickelt sich eine Vorstellung von formlosem Chaos, das tönt; bei uns in der 3. Morgen Musik am 23. April 2023 zu hören. Die Formlosigkeit per se ist das Chaos, und auf diesen einen Ton läuft die Einleitung auch wieder hinaus.
Schumann (reibt sich schmerzverzerrt die rechte Hand)
Musik redet die allgemeinste Sprache, durch welche die Seele frei, unbestimmt angeregt wird; aber sie fühlt sich in ihrer Heimat. Um zu komponieren, braucht man sich nur an eine Melodie zu erinnern, die noch niemandem eingefallen ist.
AMD
Eine Setzung, die wieder die Frage nach dem Göttlichen in menschlicher Schöpfung aufwirft. Doch Schöpfung zu thematisieren ist schwer, sowohl als Kosmogonie – Milhauds »La Création du monde« ist am 19. Januar 2023 zu erleben – als auch im heidnischen Opferritual wie in »Sacre du printemps«, dem Skandalstück des jungen Strawinsky von 1913.
Messiaen
Strawinsky hat absolut geniale und aufsehenerregende Werke, die schönsten seiner Epoche, geschrieben, als er zwischen 20 und 30 Jahre alt war. Danach aber hat er, unter verschiedenen Einflüssen, versucht, falschen Pergolesi, falschen Vivaldi und falschen Rossini zu komponieren. Ich weiß nicht, ob das sehr nützlich gewesen ist.
AMD
Dieser Frage kann das Publikum selbst nachgehen, denn nebst »Le sacre du printemps« zur Saisoneröffnung stehen auch »Le chant du rossignol« von 1917 im 3. Symphoniekonzert, die Feuervogel-Suite von 1945 im Haspa-Neujahrskonzert und »Mass« von 1948 für Chor und Orchester in der 1. Morgen Musik auf dem Programm; das heißt, seine diese Saison gespielte Musik spiegelt die Zeit vor, während und nach den zwei Weltkriegen in Klängen wider.
Schumann (mit leicht gequältem Gesichtsausdruck)
Es affiziert mich alles, was in der Welt vorgeht, Politik, Literatur, Menschen – über alles denke ich in meiner Weise nach, was sich dann durch Musik Luft machen, einen Ausweg suchen will.
AMD
Die Einwirkungen der Realität auf einen Menschen, der sich dann durch Musik Luft macht – also ein Flügelschlag der Seele. Dieser Weg ist keine Einbahnstraße, und wir können doch auch im Perspektivwechsel den Bezug zwischen Realität und Kunst anders sehen.
Messiaen (mit farbchangierendem Ton)
Die Künste, und besonders die Musik, aber auch die Literatur und die Malerei ermöglichen es uns, in Bereiche einzudringen, die zwar nicht irreal, aber jenseits der Realität sind. In diesem Sinne drückt die Musik all jenes durch Mangel an Wahrheit aus, weil sie nicht in der wahren Wirklichkeit steht.
AMD
Ihre vier, Anfang der 1930er-Jahre geschriebenen symphonischen Meditationen, »L’Ascension«, nehmen uns daher von der Erdenwirklichkeit mit auf eine Himmelfahrt – zu erleben im 8. Symphoniekonzert am 16. April 2023. Nun haben wir diese Saison ganz alte Musik vom Hofe König Ludwigs XIV. (1. Symphoniekonzert) und Werke des noch lebenden belgischen Komponisten Philippe Boesmans (6. Symphoniekonzert). Was unter dem Motto »Flügelschlag« diese Saison geboten wird, deckt also schon zeitlich eine enorme Spannbreite von Jahrhunderten ab.
Schumann
Wer in der Literatur nicht das Bedeutendste der neuen Erscheinungen kennt, gilt für ungebildet. In der Musik sollten wir auch so weit sein. Musik ist die höhere Potenz der Poesie.
AMD (wendet sich an Goethe)
Aber da wir Sprache auch im Alltag für Kommunikation einsetzen, sind wir vertrauter mit Wörtern und Satzstrukturen als mit Harmonien und Phrasenbau. Sprache scheint uns natürlich, doch warum, verehrter Dichterfürst, scheint mir auch ein musikalisch vollkommenes Kunstwerk ein Naturwerk zu sein?
Goethe (mit gewohnter Grandezza)
Weil es mit Ihrer besseren Natur übereinstimmt, weil es übernatürlich, aber nicht außernatürlich ist. Ein vollkommenes Kunstwerk ist ein Werk des menschlichen Geistes, und in diesem Sinne auch ein Werk der Natur. (Er räuspert sich.) Davon hat der gemeine Liebhaber keinen Begriff, er behandelt ein Kunstwerk wie einen Gegenstand, den er auf dem Markte antrifft, aber der wahre Liebhaber sieht nicht nur die Wahrheit des nachgeahmten, sondern auch die Vorzüge des ausgewählten, das Geistreiche der Zusammenstellung, das Überirdische der kleinen Kunstwelt, er fühlt, dass er sich zum Künstler erheben müsse, um das Werk zu genießen, er fühlt, dass er sich aus seinem zerstreuten Leben sammeln, mit dem Kunst- werk wohnen, es wiederholt anschauen, und sich selbst dadurch eine höhere Existenz geben müsse.
AMD
Wenn vom »Überirdischen«, der »höheren Existenz« und »sich erheben« die Rede ist, wird noch einmal deutlich, warum die Symphoniker den Flügelschlag als Saisonmotto gewählt haben – ein Sprachbild, das sich vom Alltag lösen und das Publikum in andere Sphären aufsteigen lassen will; es streift das Gefühl der Hoffnung auf einen Weiterflug, einen Fortschritt.
Goethe
Allein wir sehen leider, dass von den ältesten Zeiten herauf die Menschen so wenig in den Künsten als in ihren bürgerlichen, sittlichen und religiösen Einrichtungen natürliche Fortschritte getan haben, vielmehr haben sich gar bald unempfundene Nachahmung, falsche Anwendung richtiger Erfahrungen, dumpfe Tradition, bequemes Herkommen, der Geschlechter bemächtiget, alle Künste haben auch von diesem Einfluss mehr oder weniger gelitten, und leiden noch darunter, da unser Jahrhundert zwar in dem Intellektuellen manches aufgeklärt hat, vielleicht aber am wenigsten geschickt ist reine Sinnlichkeit mit Intellektualität zu verbinden, wodurch ganz allein das wahre Kunstwerk hervorgebracht wird.
AMD
Die wahre Kunst und die Ware Kunst sind gerade heutzutage miteinander verflochten. Reine Sinnlichkeit mit Intellektualität zu verbinden ist Ihnen, Herr Zimmermann, 1968 in der »Musique pour les soupers du Roi Ubu« gelungen, die im 1. Symphoniekonzert und im Sonderkonzert in der Elbphilharmonie zu hören sein wird.
Zimmermann
Wir sind ja (leider!) nicht mehr im Haydn- oder Mozart-Zeitalter. Die konnten wahrlich (und freilich) noch musizieren. Beethoven hat uns (man verzeihe mir die grässliche Paradoxie) das Musizieren verlernt, und er war fürwahr ein guter Lehrmeister. Caramba! Denn seitdem haben wir »Bekenntnismusik« gelernt.
AMD
Was meinen Sie genau damit? Im Schlussteil des »Roi Ubu« kombinieren Sie Stockhausens Zwei-Quarten-Akkord des-ges-g-c aus dessen »Klavierstück IX«, in dem der Akkord 631-mal angeschlagen wird, mit Wagners »Walkürenritt« und einer Passage aus Berlioz’ »Symphonie fantastique«, die wir übrigens im 10. Symphoniekonzert in der Laeiszhalle und in einem Sonderkonzert am 20. Juni 2023 in der Elbphilharmonie geboten bekommen. Diese Zwangshomogenisierung ist ein drastisches Bekenntnis – gerade im Gegensatz zur Spielmusik.
Zimmermann
Man hat die Unterschiede in beiden Musikauffassungen des Öfteren mit der für das Schlagwort typischen, unscharfen Begrenzung durch die Begriffe »Spielmusik« und »Bekenntnismusik« zu kennzeichnen versucht.
AMD
Aber es ist eben nur ein Versuch, denn die Vermengung von so heterogenen Stilen ist schon gewollt grotesk und geht doch weit über bloßen Humor hinaus. Die irritierende Prägung dieser Begriffe – Spiel und Bekenntnis – bedingen sich in jedem guten Musikstück in einem sehr unterschiedlichen Maß. Im »Roi Ubu« finden sich Tänze der Renaissance sowie Elemente des Jazz; Sie jonglieren mit Zitaten, parodieren und attackieren Formen.
Zimmermann (energisch)
Ein ernstes Wort: Ist es überhaupt möglich, in dieser gottverdammten Zeit überhaupt noch im absoluten und reinen Sinn zu musizieren, d. h. einen Haydn oder Mozart redivivus in unser Zeitalter zu stellen? Na? – – –
AMD
Eine Antwort darauf liefern Sie ja selbst im Ende des Stücks, wenn – wie es heißt »con tutta forza« – die Schlagzeugklänge brutal die Illusion eines Miteinander durch die Künste und Zeiten zerschmettern. Und dennoch erlaubt die Collage zwischen raffiniertem Humor und ernster Kulturkritik so etwas wie Hoffnung, selbst wenn das Stück fast das einzige ist, unter das Sie nicht O.A.M.D.G. gesetzt haben: Omnia ad maiorem Dei gloriam – auf Deutsch: Alles zur größten Ehre Gottes. Dieses ironisch bissige »Ballet noir« weist mit dem Bezug zu Alfred Jarrys Dramen in literarische und durch die Illustrationen von Max Ernst in bildliche Dimensionen – aber eben nicht in religiöse.
Rossini (setzt seinen Teller mit getrüffelten Gänsestopfleber-Canapés ab, rückt seine Perücke zurecht und tupft sich den Mund mit einer Damast-Serviette ab)
Die Musik ist dazu gemacht, die Sitten zu verfeinern und den Menschen von mittlerer und einfacher Herkunft jene gewisse Wildheit zu nehmen, die ihnen die Natur und die Entwicklung mitgibt.
AMD
Das wäre ein klarer Bildungsauftrag an die Musik. Nehmen wir diesen noch einmal fast 200 Jahre zurück und befragen einen gebürtigen Hamburger – nein, nicht Sie, Herr Brahms, sondern Herrn Mendelssohn Bartholdy. Sie haben ja Goethe nicht nur kennengelernt, sondern den 60 Jahre älteren auch musikalisch gebildet, denn es fehlte ihm an theoretischem Handwerkszeug für die Musik.
Goethe (etwas leiser als gewöhnlich)
Es fehlt mir an Kenntnis der Mittel, deren sie sich zu ihren Zwecken bedient; ich kann nur von der Wirkung sprechen, die sie auf mich macht, wenn ich mich ihr rein und wiederholt überlasse.
Mendelssohn Bartholdy (unbedarft fröhlich)
... und wie ich dann so dachte, dass sei nun der Goethe, von dem die Leute einst behaupten würden, er sei gar nicht eine Person, sondern er bestehe aus mehreren kleinen Goethiden – da wär’ ich wohl recht toll gewesen, wenn mich die Zeit gereut hätte. Heut soll ich Sachen von Bach, Haydn und Mozart vorspielen, und ihn dann so weiter führen bis jetzt, wie er sagte.
AMD
Das Weiterführen aus dem Barock »bis jetzt« machen auch die Symphoniker diese Saison wieder – mit barocker Musik von Delalande und Bach bis hin zu zeitgenössischen Klängen von Dutilleux, Berio, Sciarrino und Boesmans; in den Kammerkonzerten von Rameau bis Brücher. Aber natürlich wird auch das zentrale 19. Jahrhundert in seiner Vielfalt erklingen – beispielsweise im 1. Kammerkonzert mit Ihrem »Sommernachtstraum« als Nonett arrangiert oder Ihrer »Schottischen Symphonie« im 5. Symphoniekonzert. Wie vermitteln Sie Goethe denn die Musik seiner Zeit?
Mendelssohn Bartholdy
Vormittags muss ich ihm ein Stündchen Klavier vorspielen, von allen verschiedenen großen Komponisten, nach der Zeitfolge, und muss ihm erzählen, wie sie die Sache weitergebracht hätten; und dazu sitzt er in einer dunklen Ecke, wie ein Jupiter tonans, und blitzt mit den alten Augen. An den Beethoven wollte er gar nicht heran. – Ich sagte ihm aber, ich könne ihm nicht helfen, und spielte ihm nun das erste Stück der c-Moll Symphonie vor. Das berührte ihn ganz seltsam. – Er sagte erst: »Das bewegt aber gar nichts; das macht nur Staunen; das ist grandios«, und dann brummte er so weiter, und fing nach langer Zeit wieder an: »Das ist sehr groß, ganz toll, man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein; und wenn das nun alle die Menschen zusammenspielen!«
AMD (erfreut ob der inhaltlichen Rückführung)
Damit wären wir wieder bei der Symphonie Nr. 5 von Beethoven, die »alle die Menschen zusammenspielen«, die am 25. Mai 2023 beim 5. VielHarmonie- Konzert dabei sind. Von Goethes Worten ausgehend, wirft Beethoven ja in monumentalen Dimensionen Licht und Schatten.
Brahms (mit zusammengezogenen Augenbrauen)
Sie haben keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört.
AMD
Das stimmt, Herr Brahms, aber Ihnen ist es gelungen, einen eigenen Weg zu finden und sich nicht von dem Riesen tottrampeln zu lassen, wie wir in der 4. Morgen Musik am 4. Juni 2023 mit Ihrer dritten Symphonie hören werden. Auch wird Ihr Klavierquintett im 2. Kammerkonzert mit denen von Bruch und Webern zu erleben sein.
Tschaikowsky (mit spitzer Zunge)
Ich spielte einige Kompositionen von diesem schrecklichen Brahms. Was für ein unbegabter Bastard!
AMD
Aber, aber – Herr Tschaikowsky, auch wenn wir Ihre »Pathétique« im 9. Symphoniekonzert spielen werden, machen Sie sich mit solchen Urteilen nicht gerade beliebt. Und ich darf Sie daran erinnern, dass die Laeiszhalle auf dem Johannes-Brahms-Platz verortet ist, die Pausengetränke im Brahms-Foyer gereicht werden und Herr Brahms auch noch gebürtiger Hamburger ist; seine Musik ist hier petrifiziert – geradezu wortwörtlich, steht doch rechts an der Laeiszhalle seit 1981 ein glatt polierter Granitwürfel mit vier Brahms-Bildnissen. Und, mir persönlich viel imponierender, sein musenumrahmt schwungvolles Abbild hier im Foyer, das Max Klinger in Marmor für eben diesen Ort geschaffen hat.
Brahms (platziert mit einem verschmitzten Lächeln seine weißsteinerne Hand auf den nackten Hintern der Muse, dem während der Pausen auch manch Besucher durch Reibung zu strahlendem Glanz verholfen hat)
Ich denke nur Musik. Ich bin verliebt in die Musik – ich liebe die Musik, ich denke nichts als sie und an anderes nur, wenn es mir Musik schöner macht.
AMD (leise, aber mit Nachdruck)
Wir waren doch bei Beethoven als Fixstern im symphonischen Betrieb – Maestro, was bedeutet Ihnen persönlich die Kunst?
Beethoven (mit der Hand hinter dem Ohr)
Die Kunst? Was ich ohne sie wäre? Ich weiß es nicht. Doch mir graut – seh ich doch, was ohne sie Hundert’ und Tausende sind! Jede echte Erzeugung der Kunst ist unabhängig, mächtiger als der Künstler selbst und kehrt durch ihre Erscheinung zum Göttlichen zurück und hängt nur darin mit dem Menschen zusammen, dass sie Zeugnis gibt von der Vermittlung des Göttlichen in ihm.
AMD
Womit sich der Kreis zum Anfang schließt: der Flug hinauf in göttliche Sphären, Musik als Flügelschlag der sich erhebenden Seele.
Fauré (zwirbelt seinen Schnauzbart)
Für mich existieren Kunst und besonders Musik, um uns so weit als möglich über das tägliche Sein zu erheben.
AMD
Ihr Requiem, Monsieur Fauré, das Anfang November zu hören sein wird, haben Sie zwischen dem Tod Ihres Vaters und dem Ihrer Mutter geschrieben. Was mich an diesem Werk so beeindruckt, ist die tröstend friedvolle Stimmung. Ein »Dies irae«, das in Verdis Version so wuchtig theatral beeindruckt, fehlt ganz, und von Moll-Klängen ausgehend, hellt sich die Stimmung in Dur-Wendungen auf. Es ist nicht nur Tod und Trauer auf Erden, sondern auch die erfüllte Hoffnung, die hörbar wird, wenn es weiterhin Musik gibt.
Zimmermann (offensichtlich gereizt)
Selbstverständlich wird es weiter Musik geben, Musik, die wir meinen, auch für die Zukunft meinen, weil man sonst nicht existieren kann: Kunst als Notwehr gegen ein Leben, das total aus den Fugen zu gehen droht und schon gegangen ist. (Nur haben es die meisten noch nicht bemerkt.)
Mendelssohn Bartholdy (versöhnlich)
Nun denn, morgen soll es, so Gott will, weitergehen.
AMD
Aber selbst wenn durch das Erfahren von Musik eine Nähe zum Göttlichen sinnlich ermöglicht wird, ist es doch in der Ausführung nicht der sanfte Flügel, sondern der harte Schlag, der besonders bei den diese Saison aufgeführten Beethoven-Symphonien vonnöten ist.
Mahler (schmallippig)
Die brachte nur Richard Wagner heraus (der übrigens der Entdecker aller Beethoven’schen Symphonien genannt werden kann) und heute ich. Und auch ;mir gelingt es nur durch den Terrorismus, durch den ich jeden einzelnen zwinge, aus seinem kleinen Ich herauszufahren und über sich selbst hinauszuwachsen.
AMD
Damit machen Sie aber die Musiker und heute auch Musikerinnen zu Mitteln und nicht zu Menschen.
Mahler (holt seinen Zwicker aus der grauen Weste und poliert ihn)
Denen ist die Kunst nur die Melkkuh, welche ihnen das gemeine Leben ermöglicht, das sie dabei so bequem und angenehm wie möglich führen wollen.
AMD
Das ist ein zynischer Blick auf die Ausführenden und negiert die zu suchende Verbindung von Individuum und Kollektiv. Wenden wir uns daher noch einmal den ursprünglich revolutionären Idealen zu. Lieber Maestro Beethoven, Sie haben sich mehrfach mit Napoleon Bonaparte auseinandergesetzt – letzte Saison haben die Symphoniker Hamburg Ihre dritte Symphonie, die »Eroica«, aufgeführt, die doch wohl ursprünglich Bonaparte gewidmet werden sollte. In der beglaubigten Abschrift des verschollenen Autografs sieht man, wie darauf ursprünglich als Titel »Sinfonia grande intitolata Bonaparte« stand. Die Zeile mit dem Namen wurde ausgelöscht – mit wütender Wucht, sodass ein Loch im Papier entstand. Der kleine General hat Sie enttäuscht, als er sich zum Kaiser krönte und die Ideale und Hoffnungen der Revolution damit verriet?
Beethoven (trotzig laut)
So ist auch er nur ein ganz gewöhnlicher Scheißkerl!
AMD
Trotz dieser Drastik werden auch die darauf folgenden Symphonien, etwa die Fünfte und die Siebte, die beide diese Saison in der Laeiszhalle zu hören sein werden, heute im Kontext von Napoleon gelesen. Ihr Biograf Anton Schindler hat Ihnen die Worte »So pocht das Schicksal an die Pforte!« in den Mund gelegt, die dafür verantwortlich sind, dass wir die Fünfte als »Schicksalssymphonie« kennen. Ob damit konkret die auf Wien vorrückenden Soldaten Napoleons gemeint sind, Ihr sich ausweitender Hörverlust oder das Los der gesamten Menschheit – das sei nun einmal dahingestellt.
Beethoven
Es ist kein Trost für bessere Menschen, ihnen zu sagen, dass andere auch leiden, allein Vergleiche muss man wohl immer anstellen, und da findet sich wohl, dass wir alle, nur auf eine andere Art, leiden, irren.
AMD
Ihre siebte Symphonie gilt Wagner als »Apotheose des Tanzes« und Adorno sogar als »die Sinfonie par excellence«. Als diese unter großem Jubel 1813 uraufgeführt wurde, spielte man das Werk, das lebensbejahende Freude vermittelt, zusammen mit Ihrem Schlachten-Epos »Wellingtons Sieg« op. 91. Bei diesem von Ihnen, lieber Maestro, dirigierten Konzert wirkten im Orchester Antonio Salieri und Giacomo Meyerbeer, Louis Spohr, Ignaz Moscheles und Johann Nepomuk Hummel mit – für uns nominell schon mehr als ein Flügelschlag – mehrere Flugreisen ... Die achte Symphonie, die im 4. VielHarmonie-Konzert am 2. März 2023 zu hören sein wird, wurde zunächst als Klavierkonzert konzipiert. Als Sie die Symphonie im Sommer 1812 skizzierten, trafen Sie, lieber Herr Beethoven, in Teplitz auch mehrfach auf Goethe und spielten ihm sogar am Klavier vor, als ...
Goethe (ins Wort fallend)
Er spielte köstlich. Er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit. Sehr zu entschuldigen ist er hingegen und sehr zu bedauern, da ihn sein Gehör verlässt, das vielleicht dem musikalischen Teil seines Wesens weniger als dem geselligen schadet. Er, der ohnehin lakonischer Natur ist, wird es nun doppelt durch diesen Mangel. Zusammengefasster, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen. Ich begreife recht gut, wie er gegen die Welt wunderlich stehen muss.
AMD
Das Stehen gegen die Welt im Fliegen durch die Kunst – damit geben Sie uns einen entscheidenden Impuls, Herr von Goethe. Durch Anekdoten und Bilder ist Ihrer beider Begegnung beim Spaziergang in Teplitz zum dramatischen Bruch trotz gegenseitiger Wertschätzung stilisiert, aber die republikanischen Freiheitsideale von Ihnen, Herr Beethoven, vertragen sich nur bedingt mit der höfischen Karriere des Herrn Geheimrats.
Beethoven (mit sich verfinsternder Miene)
Goethe behagt die Hofluft zu sehr, mehr als es einem Dichter ziemt. Es ist nicht viel mehr über die Lächerlichkeiten der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter, die als die ersten Lehrer der Nation angesehen sein sollten, über diesem Schimmer alles andere vergessen können.
AMD
Konzentrieren wir uns also lieber auf das Licht der Kunst und nicht den Schimmer der Menschen. Sie waren vorhin sehr zynisch den Musikern gegen- über – was müssen wir denn mitbringen, um Kunst zu erleben, Herr Mahler?
Mahler
Man muss Ohren und ein Herz mitbringen und – nicht zuletzt – sich willig dem Rhapsoden hingeben. Ein Rest Mysterium bleibt immer – selbst für den Schöpfer!
AMD
Und Sie sind ja selbst quasi von der Form Ihrer vierten Symphonie, die wir am 19. Februar 2023 im Programm haben, überrascht worden, denn sie war gar nicht als Großwerk geplant, oder?
Mahler (fast bescheiden)
Eigentlich wollte ich nur eine symphonische Humoreske schreiben, und da ist mir das normale Maß einer Symphonie daraus geworden.
AMD
Und diese können wir im 6. Symphoniekonzert von Maestro Cambreling erleben, Sarah Wegener wird den Sopranpart übernehmen, der dann »Das himmlische Leben« im Finale zum Klingen bringt; vom irdischen Leben zum himmlischen, von einer verworrenen Komplexität hin zur reinen Einfachheit, von der erwachsenen Erfahrung hin zur kindlichen Unschuld.
Mahler (sehr ernsthaft)
Jeder der drei Sätze hängt aufs Innigste und Bedeutungsvollste mit dem letzten zusammen.
AMD
Schon in den Eröffnungstakten wird mit den Schellen-, Flöten- und Klarinettentönen der changierende Glanz eines Flügelschlags angedeutet, der uns klanglich im Himmel des letzten Satzes erwarten wird, bevor dann eine einfache, tänzerische Melodie aufspielt, die die verschlungenen Entwicklungen der Sonatenhauptsatzform durchlaufen wird. Der Himmel scheint sich in der Reprise des ersten Satzes zu trüben, wenn ...
Mahler (schnell korrigierend)
Nicht der Himmel selbst ist es, der sich trübt, er leuchtet fort in ewigem Blau. Nur uns wird er plötzlich grauenhaft, wie einen am schönsten Tage im lichtübergossenen Wald oft ein panischer Schreck überfällt.
AMD
Diese Panik leitet sich ja vom Hirtengott Pan her, der in der Mittagsstille mit einem Schrei eine plötzliche Massenflucht verursacht hat. Und doch bestimmt dieses mythologisch sagenverzierte Gefühl einen dramatischen Zustand des 20. und leider auch des 21. Jahrhunderts – besonders im Osten. Während Ihre vierte Symphonie, Herr Schostakowitsch, noch stark an Mahler angelehnt ist, erinnert die fünfte, die wir am 26. März 2023 im 7. Symphoniekonzert hören werden, mit einem triumphal lauten Schluss als Geniestreich zwischen Konservatismus und Originalität eher an Tschaikowsky und wurde gleich Beethovens Werken dem Motto »Per aspera ad astra« zugeordnet.
Schostakowitsch (nimmt seine schwarze Brille von der Nase und blickt skeptisch)
Warum soll denn Musik uns immer nur von den Höhen des menschlichen Geistes berichten oder allenfalls von romantischen Bösewichtern? Helden und Schurken gibt es nur wenige. Die meisten Menschen sind mittelmäßig. Sind weder schwarz noch weiß. Sie sind grau, von einer schmutziggrauen Schattierung. In diesem so unbestimmt gefärbten Milieu entstehen die grundlegenden Konflikte unserer Zeit. Es ist ein ungeheurer Ameisenhaufen, in dem wir herumkriechen. Gerade diesen Umstand sollten wir, glaube ich, besonders beachten. Man muss über die Mehrheit und für die Mehrheit schreiben. Und man muss die Wahrheit schreiben. Und das wird man dann realistische Kunst nennen können.
AMD
Kunst und Wirklichkeit werden oft als Dichotomie verstanden, dabei haben Sie ja beispielsweise im ersten Cellokonzert, das hier am 4. Dezember 2022 von Mischa Maisky gespielt werden wird, Ihre Initialen DSCH musikalisch gefasst als D-Es-C-H und reich variiert. Kunst und Wirklichkeit werden gegeneinander in der Frage um den Preis für Talent ausgespielt.
Schönberg (unterbricht in froher Erwartung, die im 10. Symphoniekonzert gespielt werden wird)
Ich glaube aber doch, dass Schostakowitsch ein großes Talent ist. Es ist vielleicht nicht sein Fehler, dass er der Politik erlaubt hat, seinen Kompositionsstil zu beeinflussen. Und selbst wenn das eine Schwäche seines Charakters ist – er mag kein Held gewesen sein, aber ein talentierter Musiker. Es ist so: Es gibt Helden, und es gibt Komponisten. Helden können Komponisten sein, und umgekehrt, aber man kann es nicht verlangen.
AMD
Das gilt leider in allen Bereichen ... Wir sind immer wieder zu Ihnen, lieber Beethoven, zurückgekehrt, und nun möchte ich Ihnen auch das Schlusswort überlassen.
Beethoven
Man sagt die Kunst sei lang, kurz das Leben – lang’ ist das Leben nur, kurz die Kunst; soll uns ihr Hauch zu den Göttern heben – so ist er eines Augenblickes Gunst. Ich wünsche Ihnen allen guten Erfolg Ihrer Bemühungen für die Kunst, sind es diese und Wissenschaft doch nur, die uns ein höheres Leben andeuten und hoffen lassen.
AMD
Lieber Herr von Goethe, liebe Komponistenrunde, ich hätte mich sehr gern mit Ihnen noch über viele weitere Programmpunkte der Sehnsucht und der Hoffnung unterhalten – alles Flügelschläge, die uns diese Saison mit dem Außergewöhnlichen in sinnlichen Kontakt bringen –, aber jetzt sage ich erst einmal vielen Dank für diesen Austausch auf den Stufen und freue mich auf die klangliche Kunst, die auf den folgenden Seiten in bunten Bildausschnitten hungrigen Augen als Amuse-Bouche gereicht wird.
(Aus dem Saal hört man die Probe zur neunten Symphonie von Beethoven, die es zu Silvester und Neujahr geben wird, und plötzlich singt Clara Schumann aus ihrer Nische im Foyer die Zeilen, in die alle – sogar Carl und Sophie Laeisz, deren Frisur wieder zur Ruhe gekommen ist – bis auf Haydn, der das Stück nicht kennen kann, in die Melodie ein und jubilieren dem Motto »Flügelschlag« hoffnungsfroh freudig, wie Sonnen fliegend, singend zu: »Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng geteilt, Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt.«)
Dr. Alexander Meier-Dörzenbach ist nach seiner juniorprofessoralen Tätigkeit in der Hamburger Amerikanistik und seiner Arbeit als Chefdramaturg des Aalto-Theaters freischaffend aktiv. Als Operndramaturg arbeitet er unter anderem bei den Bayreuther und den Salzburger Festspielen, in den Opernhäusern in London, Amsterdam, Paris, Wien, Glyndebourne und zuletzt beim Ring des Nibelungen in Berlin und bei Peter Grimes in München. Er lehrt an mehreren Universitäten und Hochschulen und ist dramaturgisch beim Lausitz Festival sowie kuratorisch in der Bundeskunsthalle tätig. Mehr lesen