Aussöhnung
an Madame Marie Szymanowska
Die Leidenschaft bringt Leiden! – Wer beschwichtigt
Beklommnes Herz, das allzuviel verloren?
Wo sind die Stunden, überschnell verflüchtigt?
Vergebens war das Schönste dir erkoren!
Trüb ist der Geist, verworren das Beginnen;
Die hehre Welt, wie schwindet sie den Sinnen!
Da schwebt hervor Musik mit Engelschwingen,
Verflicht zu Millionen Tön um Töne,
Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen,
Zu überfüllen ihn mit ew’ger Schöne:
Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen
Den Götterwert der Töne wie der Tränen.
Und so das Herz erleichtert merkt behende,
Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen,
Zum reinsten Dank der überreichen Spende
Sich selbst erwidernd willig darzutragen.
Da fühlte sich – o daß es ewig bliebe! –
Das Doppelglück der Töne wie der Liebe.
(Johann Wolfgang von Goethe)
Spielzeit-Essay von Alexander Meier-Dörzenbach
Die Saison 2022/2023 der Symphoniker Hamburg – Laeiszhalle Orchester wurde vom Inspirationswort »Flügelschlag« getragen; dieser Begriff aus einer Gedichtzeile Goethes poetisierte im erhebenden Wortbild die sanft mächtige Kraft der Hoffnung. Auch für die Saison 2023/2024 ist der zentrale Terminus, »Götterwert«, einem Poem des Dichterfürsten entnommen; es ist diesem Text vorangestellt. Dort ist von hervorschwebender »Musik mit Engelschwingen« die Rede, sodass der Flügelschlag sich aus dem Firmament klanglich zu uns hinabzubewegen scheint. »Doch Himmelsbogen« war das ebenfalls Goethe entlehnte Motto der Saison 2021/2022 und zeichnete einen Weg der widerhakigen Zuversicht zwischen Himmel und Erde optisch vor.
Stärker denn je wird heute die Beziehung zwischen transzendentem Firmament und irdischer Welt hinterfragt, und es gilt, eine Vermittlung durch Kunst aufzuspüren. Der engelgefiederte Flügelschlag der Musik durchdringt den Menschen, der dann den Götterwert nicht nur der Töne, sondern auch in seiner menschlich feuchten Reaktion erkennt: »Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen/Den Götterwert der Töne wie der Tränen.« Mit all diesen dichterischen Wegweisern wird ein Komplex umspielt, der sich mit nichts weniger als Leben und Tod in Konzepten von irdischem Leid und Leidenschaften sowie in Konstrukten von ewigem Leben und lebendiger Kunst auseinandersetzt. Daher ist den poetischen Worten am Anfang der Saisonbroschüre dieses Mal durchscheinend gleich einem Denkmal eine Skulptur vorangestellt, die der Vergänglichkeit des musikalischen Klangs die Haltbarkeit der marmornen Haptik entgegensetzt. Doch gilt es zunächst, dieses Denk-Mal sprachlich zu fassen.
Florestan den Wilden,
Eusebius den Milden,
Tränen und Flammen
Nimm sie zusammen
In mir beide
Den Schmerz und die Freude.
(Robert Schumann)
Daniel K. Florestan und Alexander M. D. Eusebius besuchen die Michelangelo-Ausstellung in Utopia, die zum ersten Mal auch alle marmornen Pietà-Darstellungen des italienischen Meisters versammelt. Während Florestan gleich zur letzten Skulptur eilen will, hält ihn Eusebius verzückt vor der größten Figurengruppe zurück und kann seine Begeisterung kaum zügeln.
Eusebius (mit blitzenden Augen) Nicht einmal Mitte zwanzig! Kannst du das glauben? Michelangelo war nicht einmal Mitte zwanzig, als er dieses Meisterwerk in Rom schuf! 1499 wurde die Skulptur in Alt-St. Peter aufgestellt, und seit Jahrhunderten sind sich alle einig, dass damit das Können der Antike in der Hochrenaissance wiedererweckt – ja, namentlich richtig, wiedergeboren wurde. Welch unerreichte Schönheit!
Florestan Das bestreite ich auch gar nicht, aber lass uns einmal hinter diese Schönheit blicken. Das Thema ist doch entsetzlich: Eine Mutter hält ihr totes Kind im Arm – das schmerzvoll Grausamste, das wir uns vorstellen können. Den gemeißelten Felsen, auf dem diese Figurengruppe platziert ist, spür ich schon bei diesen Worten als Stein auf meiner Brust liegen ...
Eusebius Doch schau mal, wie die Gottesmutter ihren vom Kreuz genommenen Sohn in den Armen wiegt. Das wirkt so lebendig: die Falten in ihrem Kleid und im Leichentuch, die Muskeln und Sehnen seines Körpers – als hätte jemand ein Foto in Carrara-Marmor geschossen.
Florestan (mit Beharrlichkeit) Aber noch einmal: Ich bezweifle nicht die Meisterschaft, aus totem Stein lebendige Menschlichkeit zu machen, aber mich interessiert weniger die äußerlich perfekte Hülle als vielmehr der Versuch, die zerbrechliche Menschlichkeit des Schmerzes, des Trostes, des Unaussprechlichen zwischen Leben und Tod in einer Form der Kunst zu erfahren.
Eusebius Gut – bleiben wir bei der Kunst und treten einen Schritt zurück, um die Konstruktion der Schönheit zu durchschauen. Maria hat kein leidverzerrtes Gesicht, sie ist nicht die Mater Dolorosa, sondern eine junge – sehr junge, schöne Frau. Ihr seitlich geneigtes Haupt mit dem nach unten gerichteten Blick umweht Stille, kein lautes Geschrei. Ihre linke Hand bittet uns durch die Öffnung leise hinzu. Sie wirkt schon fast entrückt. Die Figur des toten Christus in ihrem Schoß ist so fragil – bis auf ein Lendentuch ist er nackt, und wir sehen die Adern und Knochen sich durch die marmorn glänzende Haut drücken.
Florestan Jesus ist deutlich kleiner als Maria dargestellt – damit sie nicht unter der Schwere des männlichen Körpers ächzt, sondern ihr Kind in den Armen wiegen kann. Die Position der Figuren und das üppige Gewand von Maria sind zwar so raffiniert, dass einem das zunächst gar nicht auffällt, aber gerade die extreme Jugendlichkeit von Maria sollte überraschen – sie wirkt deutlich jünger als ihr Sohn; sie scheint also bereits dem irdischen Raum-Zeit-Gefüge enthoben zu sein.
Eusebius (kramt aus seiner Tasche erregt ein kleines Büchlein hervor und blättert darin) Warte – ich habe dazu etwas gelesen. Michelangelo selbst hat sich Jahre später gegenüber seinem ersten Biografen, Ascanio Condivi, dazu geäußert: »Weißt du nicht, dass keusche Frauen sich viel frischer halten als die unkeuschen?« Condivi hebt daraufhin die blütenfrische Jugend dieser Maria hervor, da »sich niemals die geringste sündhaft lüsterne Begierde in ihre Seele verirrte!«.
Florestan (lacht herzhaft) Also, die reine Seele hält den Körper jung – das lässt ja viel über unsere Gesellschaft erkennen, die es mit Gesichtspeeling und Botox versuchen muss. Aber »niemals die geringste sündhaft lüsterne Begierde« gespürt zu haben, scheint übermenschlich ...
Eusebius Ganz genau darum geht es ja! Es ist eben nicht nur die reine Jungfrau Maria, sondern gleichzeitig auch die Mutter Gottes, die hier mit ihrem Sohn aus einem einzigen Block gehauen wurde.
Florestan Bisher hielt ich das eher für einen literarisch-theologischen Topos. In Dantes Göttlicher Komödie – ein Werk, das Michelangelo übrigens besonders begeisterte – heißt es in einem Mariengebet »Vergine Madre, figlia del tuo figlio« – »Jungfräuliche Mutter, Tochter deines Sohnes«, wunderbar paradox! Und hier in der Skulptur sieht sie tatsächlich aus wie die junge Braut oder sogar die schöne Tochter – sie scheint den ästhetischen Gesetzen einer göttlichen Schönheit und nicht denen der Natur zu folgen.
Eusebius (etwas verträumt) Und eben diese Schönheit provoziert doch Tränen des Mitleids. Der fragil zarte Körper Christi und besonders sein kraftlos nach hinten geneigter Kopf, den Maria in ihrer Armbeuge hält, rührt mich. Dieser tote Körper ist lebendigste Kunst! (Er blättert wieder in seinem Büchlein und zitiert stolz) Schon im 16. Jahrhundert ist Vasari voll des Lobes: »Wir müssen den Gedanken aufgeben, jemals eine andere Statue mit so schönen Gliedmaßen zu finden oder einen Leib, der mit so großer Kunst ausgeführt ist. [...] Kein Bildhauer oder sonstiger noch so außergewöhnlicher Künstler darf auch nur daran denken, in der Darstellung oder an Anmut zu erreichen, was Michelangelo hier geleistet hat, oder bei aller Anstrengung sich mit ihm an Feinheit, Reinheit oder Meißelbehandlung des Marmors zu messen; denn hier findet man alles, was die Kunst vermag und leisten kann.«
Florestan (erregt und lauter werdend) Das reicht mir aber nicht! Und viel wichtiger: Das reichte auch Michelangelo nicht – sonst hätte er das Thema nicht mehrfach wieder aufgegriffen. Der tote Körper ist fast unversehrt – wir ahnen kaum
die Stigmata, vom dornenzerstochenen Haupt ist nichts zu sehen. Das ist alles von einer Schönheit, die uns suggeriert, Jesus sei friedlich im jugendlich weiblichen Schoß entschlafen. Aber seine brutale Folterung, ihre schmerzvolle Trauer, die bedingungslose Hingabe – all das sehe ich nicht. Der Götterwert ist hier Schönheit.
Eusebius Aber ist Schönheit nicht der Götter wert? (Er glaubt sich besonders clever und blättert abermals in seinem Büchlein) »Der sterbliche Schleier verhüllt die göttliche Absicht«, wie Michelangelo selbst bedauerte. Und hier strahlt die göttlich schöne Form eben unverhüllt – ohne sterblichen Schleier.
Florestan Aber diese Schönheit blendet von außen; sie erleuchtet nicht. Ich glaube, dass Michelangelo inhaltlich weitergekommen ist – lass uns nun seine letzte Pietà und damit auch sein letztes Werk überhaupt umrunden: die Pietà Rondanini, die auch der Saisonbroschüre vorangestellt ist. (Beide gehen an der vierfigurigen Florentiner Pietà-Skulptur vorbei und bleiben vor der schmalen Figurengruppe der Pietà Rondanini stehen.)
Eusebius Gleichwohl ist diese Figur doch unvollendet – nur Tage vor seinem Tod hat der hochbetagte Michelangelo noch daran gearbeitet.
Florestan Er hat immer wieder betont, dass eine Skulptur im Marmor bereits vorhanden sei und er nur das überflüssige Material entferne, aber sieh doch mal hin. Das sind so modern wirkende, archaisch vereinfachte Figuren, die sich überhaupt nicht mehr an antiker Schönheit orientieren, sondern sich vielmehr fast schon brutal nach einer vergeistigten Idee strecken.
Eusebius Überhaupt strecken ... Hier sehen wir Maria Jesus in aufrechter Position festhalten. Wobei »festhalten« nicht so recht stimmt. Hält Maria wirklich ihr Kind oder stützt Jesus nicht tatsächlich seine Mutter?
Florestan (mit leicht süffisantem Grinsen) Nun wird es interessant, denn hier haben wir keine Anbindung mehr an das Vesperbild: Der tote Jesus wirkt hier – aufrecht – viel aktiver als sonst. Wenn wir um die Skulptur herumgehen, wird dieser Eindruck sogar noch intensiviert. Betrachten wir sie von vorn, scheint Maria ihren Sohn zu halten, von hinten gesehen scheint Jesus seine Mutter zu tragen.
Eusebius Du meinst, das war die altersweise Absicht Michelangelos?
Florestan (lacht) Es ist schon erstaunlich, dass früher viele Kunsthistoriker diese Figur aufgrund mangelnder Schönheit verrissen haben. Aber kann der schmerzhafte Moment zwischen Leben und Tod, zwischen Trauer und Erlösung je anrührender in Form gebracht werden? Wir erkennen einen weiteren, größeren Unterarm und einen unbekleideten Unterschenkel rechts hinter der ausgeführten Christusfigur. Michelangelo hätte die früheren Entwurfsideen leicht abschlagen können, aber sie blieben. Die alte Idee und der neue Versuch überschreiben einander schemenhaft.
Eusebius Du meinst, dass es nicht nur physisch in Stein, sondern vielmehr menschlich konzeptionell unmöglich wäre, das Zusammenspiel von Trauer und Trost in glatter Gänze zu fassen?
Florestan Marias schmerzvolles Gesicht dreht sich zur Seite, und sie vermag es nicht allein, den Leib ihres toten Sohnes zu stützen. Die grob geschlagenen Figuren sind tief verinnerlicht und sehen fast expressionistisch aus. Größeres Interesse an dieser Figur kam auch erst in den frühen 1930er-Jahren auf – ausgerechnet mit den Bemühungen von Arno Breker, die Figur zu rekonstruieren, als er Stipendiat in der Villa Massimo war. Während er also bestrebt war, einen »harmonischeren Zustand« vermeintlich wiederherzustellen, erkennt der fast gleichaltrige Bildhauer Henry Moore in dem bewegenden Fragment eine fertige Meisterschöpfung: »Ich kenne kein einziges Kunstwerk von irgendjemandem, das ergreifender, bewegender ist.« Eine glatt polierte Vollendung dieser Skulptur würde nicht eine Wunde im Betrachter schlagen, sondern sich in seiner Wertschätzung von Schönheit verheddern. Nein, nicht einmal verheddern. Die gedankliche Betrachtung perlte an der glatt polierten Oberfläche einfach ab.
Eusebius Zumindest verleitete eben dieser Glanz schließlich dazu, die römische Pietà in unzähligen Variationen – ob als Nachbildung in der Berliner St.-Hedwigs-Kathedrale oder als Souvenir-Abgüsse – auf den Markt zu bringen.
Florestan Ganz anders bei der Pietà Rondanini: Hier sind der grobe Meißelschlag und die mangelnde Perfektion Konzept! Mit seiner ersten Pietà hat Michelangelo der Welt die geschlossene Schönheit geschenkt. Mit seiner letzten Pietà öffnet er hingegen das Unsagbare von Tod, Trost und Auferstehungshoffnung, von Menschlichkeit, der wir uns nur im Non-finito nähern können. Diese Figur fordert nicht lautstark Bewunderung für ihre strahlende Perfektion ein, sondern verlangt stille Reflexion ob des unvollständig, nein – vollständig Unsagbaren!
Eusebius (nachdenklich) Also nicht ein Götterwert der Tränen, die hochachtender Rührung wie bei der römischen Pietà entspringen, sondern ein Götterwert, der einen anderen Ton anschlägt. (Er blättert abermals in seinem Notizbüchlein) Ich habe mir hier ein paar Gedichtzeilen von Michelangelo notiert:
Wenn durch belebten Stein die Kunst vermag ihr Antlitz Tag für Tag
im Gleichen hinzuhalten; sollte nicht
der Himmel erst, da sie von seiner Hand,
wie dies von meiner ist, so viel Bestand
ihr leihn, dass sie (nicht nur für mein Gesicht)
nicht menschlich mehr, als Göttin sich erhielte?
Und doch geht alles hin und währt nur kurz.
Mir scheint, dass ich im Wichtigsten verspielte, wenn da ein Stein [...]
Florestan (unterbricht ihn abrupt) Nun aber genug mit Stein und Marmor – möge es endlich um die klingende Kunst gehen! Daher spricht Goethe vom »Götterwert der Töne wie der Tränen«, und es ist Zeit, dass wir dem mit den Figuren verknüpften Erlösungsgedanken, dem Einlass in ein Paradies, mit Tönen nachspüren.
Eusebius Du hast völlig recht, und genau das wird mehrfach in der Musik dieser Saison verhandelt: in Symphonien von Schostakowitsch, Dvořák, Beethoven, Schubert, Mahler oder Messiaen. Bei unseren Namen wird es jedoch niemanden überraschen, wenn ich ein Werk von Robert Schumann anführe, das er selbst als seine »größte Arbeit und ich hoffe auch meine beste« bezeichnet hat. Mit diesem Stück wird die nächste Saison der Symphoniker Hamburg – Laeiszhalle Orchester eröffnet werden.
Florestan (mit einem Augenzwinkern) Du meinst natürlich Das Paradies und die Peri, Schumanns dreiteiliges Oratorium, dem Mitte des 19. Jahrhunderts großer Erfolg beschieden war.
Eusebius Schumann selbst hat die damals beliebte orientalische Versdichtung »Lalla Rookh« des Byron-Freundes Thomas Moore mit übersetzt und bereitgestellt. Die Peri, beflügeltes Kind eines Engels und einer Irdischen, ist schuldig geworden ...
Florestan Ob an etwas anderem als ihrer Herkunft, des »sündigen Geschlechts«, erfahren wir allerdings nie – vielleicht war es auch das Pflücken einer verbotenen Frucht?
Eusebius (blickt streng) Jedenfalls klingt schon im lyrisch verhaltenen Andante der Einleitung eine Sehnsucht nach Erlösung, nach Seligkeit durch. Die Peri versucht, ins Paradies zurückzukehren, und erfährt aus dem Schicksalsbuch: »Es sei der Schuld die Peri bar, / die bringt zu dieser ew’gen Pforte / des Himmels liebste Gabe dar!« Eigentlich eine sehr menschliche Disposition. Ihre Reise führt sie nach Indien, Nordafrika und Arabien, denn sie muss das aufspüren, was dem Himmel als liebste Gabe wert erscheint.
Florestan Das bringt uns zurück zum Leid und dem Erlösungswunsch: Was verschafft den Eintritt ins Paradies? Was bringt Erlösung? Hier einmal musikalisch jenseits abendländischer Grenzen und konfessioneller Schranken gefragt. Die Metaphysik wird geradezu universalistisch, wenn ...
Eusebius (unterbricht etwas unwirsch) Deine Metaphysik kommt aber sehr physisch daher: Die Peri muss der himmlischen Führungsriege das perfekte Geschenk machen, um wieder Eintritt ins Paradies zu erlangen. Dinghafter als diesen Wegezoll geht es ja kaum!
Florestan (lachend) Zumal, wenn wir uns die Geschenke anschauen: Zuerst gelangt die Peri in die Wirren eines Kriegs, nach Indien, und fängt den letzten Blutstropfen eines Widerstand leistenden Jünglings auf. Doch die Gabe gefällt nicht. So reist sie ins pestverseuchte Ägypten, wo ein infizierter Jüngling sich zum Sterben zurückzieht, aber von seiner Geliebten gefunden wird – ihre letzten Seufzer sammelt sie als Gabe, doch auch damit wird die Peri nicht ins Paradies gelassen.
Eusebius Und was hat das nun mit dem Goethe’schen Götterwert der Tränen zu tun?
Florestan Geduld – im dritten Teil verschlägt es die Peri nach Syrien, und sie beobachtet einen Verbrecher, dem beim Anblick eines spielenden Kindes Tränen der Reue entfließen. Die Peri bringt sie als Geschenk zur Himmelstür. Erst diese Gabe findet Anklang, und in einem Freudenjubel darf sie hinein ins Paradies.
Eusebius Das berühmt strahlende hohe C zum Abschluss – doch aufregend bleibt die Erklärung für die Erreichung himmlischer Höhen. Am Ende von Goethes Faust II verkünden drei Engel das Urteil über Faust: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen« – und diese Begründung schimmert auch bei der Bewertung der Peri durch: »Du hast gerungen und nicht geruht, / nun ist’s errungen das köstliche Gut.« Dieses »köstliche Gut« wird verdinglicht: »Die Träne ist’s, die du gebracht, die aus dem Aug’ des Sünders floss / Die dir den Himmel wieder erschloss«; den Zuhörenden erschließt sich das Paradies im jubilierenden Spitzenton, und so wird kunstvoll der »Götterwert der Töne wie der Tränen« zusammengeführt. Und damit wird es höchste Zeit, die Goethe’schen Zeilen, die dieser Saisonbroschüre vorangestellt sind, einmal näher zu betrachten.
Florestan Ich bleibe allerdings noch bei der letzten marmornen Maria Michelangelos zwischen Trauer und Trost – auch wenn ja bei Goethe ebenfalls die jugendlich holde Weiblichkeit im Zentrum von Tönen und Tränen steht, wenn ich mich recht entsinne ...
Florestan erinnert sich richtig, und damit lassen wir die beiden bei den Skulpturen zurück. Der alte Goethe verliebte sich im böhmischen Kurort Marienbad 1821 in die 17-jährige Ulrike von Levetzow, die seine »große Leidenschaft« wie wohl auch sein Heiratsgesuch zwei Jahre später zurückwies. In einer verzweifelten Liebesklage poetisierte Goethe seine Gefühle: Die »Marienbader Elegie« berichtet strophenmittig von dem »Streben / Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten / Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben« und endet mit der Erkenntnis »Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren«. Doch blieb das Lamento nicht das letzte Wort. Im Jahr 1827 stellte Goethe dem Gedicht »An Werther« voran und schloss die Trilogie der Leidenschaft mit der »Aussöhnung«, die diese Saison poetisch trägt.
Vom 16. bis zum 18. August 1824, also wenige Tage vor seinem 75. Geburtstag, schrieb Goethe die »Aussöhnung« und weist damit dem selbstverzehrenden Leid einen Weg. »Die Leidenschaft bringt Leiden!« hebt das Gedicht an, doch offeriert es eine Lösung. Es geht um die willige Bereitschaft, sich immer wieder auf die Erfahrung von musikalischer Schönheit einzulassen:
Da schwebt hervor Musik mit Engelschwingen,
Verflicht zu Millionen Tön um Töne,
Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen,
Zu überfüllen ihn mit ew’ger Schöne
Erst die schöne Musik vermag die Sehnsucht des leidenden Menschen in »den Götterwert der Töne wie der Tränen« zu verwandeln und wenigstens ein Stück weit das Individuum zu heilen:
Und so das Herz erleichtert merkt behende,
Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen
Es geht also darum, die Leidhaftigkeiten und die Leidenschaften des Lebens anzunehmen und nach jedem Selbstverlust immer wieder neu das Leben zu akzeptieren und durch Musik in sich diese lebendige Sehnsucht bewusst zu spüren.
Unsere Gegenwart ist mit Herausforderungen nicht gerade zögerlich: Klimakatastrophe, Krieg, Rekordinflation, Pandemie und Rohstoffkrise – um nur einige aufzulisten. Für eine gangbare Lösung der Probleme sind politische, soziale und ökonomische Entscheidungswege vonnöten. Doch wie verhält es sich mit einer philosophisch-ästhetischen Positionierung? Führt uns ein »Götterwert«? Und wenn ja – wohin?
Glaubt man Fotos in Reiseprospekten und Heinrich Heine, so könnte die Karibik eine wohlklingende Lokalität sein:
Heiter überstrahlt die Sonne
Golf und Strand der Insel Kuba:
In dem blanken Himmel hängen
Heute lauter Violinen.
Doch soll uns weniger sein unvollendetes Gedicht »Bimini« von 1853 interessieren als vielmehr beispielhaft die Instrumente, die er poetisch ins strahlende Firmament hängt. Sie klingen diese Saison auch auf der Bühne der Laeiszhalle durch die Geschichte der Götterwerte hindurch.
Wenn alle die erste Geige spielen wollen, kommt kein Orchester zusammen. (Robert Schumann)
In der Violinenchronologie beginnen wir im Barock mit Antonio Vivaldis Konzert für 4 Violinen op. 3/10 RV 580 von 1711, das Johann Sebastian Bach so sehr wertschätzte, dass er es für vier Klaviere, Streicher und Basso continuo chromatisch angereichert bearbeitete. Der Venezianer Vivaldi war selbst ein bedeutender Violinist und hat Dutzende Konzerte für sein Instrument verfasst – aus seinem L’Estro Armonico wird das 10. Konzert am ersten Weihnachtsfeiertag dieses Jahres in der Laeiszhalle erklingen und mit dem simultanen Spiel von vier verschiedenen Arten des Arpeggio der vier Violinen im Largo des zweiten Satzes einen schillernden Zauber verströmen, ganz wie der Zyklus-Titel verspricht: Die harmonische Eingebung.
Ludwig van Beethoven hingegen hat nur ein einziges Violinkonzert geschrieben; es wurde einen Tag vor Heiligabend 1806 uraufgeführt. Die Premiere war ein mäßiger Erfolg; das komplexe Konzert verschwand schnell wieder von den Spielplänen und war fast vier Jahrzehnte lang selten zu hören. Das änderte sich schlagartig mit der sensationellen Darbietung 1844, als Felix Mendelssohn Bartholdy die Philharmonic Society of London dirigierte und der damals erst 12-jährige Joseph Joachim den Solopart spielte. Seitdem gilt Beethovens op. 61 – zu hören im 4. Symphoniekonzert – als eine der Säulen im Violinkonzert-Repertoire. Joseph Joachim hob Jahrzehnte später ein weiteres Violinkonzert, dieses Mal wirklich, aus der Taufe – ebenfalls von einem Komponisten, der nur ein einziges Violinkonzert geschrieben hat: Johannes Brahms. Joachim übernahm den Solopart in Brahms’ symphonisch dichtem op. 77 bei der erfolgreichen Uraufführung in Leipzig am Neujahrstag 1879 unter Leitung des Komponisten. Brahms und der Violinist arbeiteten zusammen an der finalen Form des Konzerts – sogar über die Uraufführung hinaus. Joachims virtuos schnelles Spiel lässt sich an erhaltenen Metronom-Angaben ablesen; mit hohen technischen Anforderungen werden im effektvollen Schlusssatz Tanzthemen zwischen Orchester und Solovioline – auch in der 2. VielHarmonie – zu einem farbenfroh fröhlichen Klangreigen verbunden.
Das Violinkonzert von Samuel Barber hingegen vermittelt uns eine andere Geschichte: Der amerikanische Komponist wurde 1939 von einem Großindustriellen mit der Komposition für einen Schützling beauftragt – den Violinisten Isaak Briselli, der vor der Russischen Revolution geflohen war und als 14-Jähriger ein sensationelles Debüt in Philadelphia gegeben hatte. Briselli studierte zusammen mit Barber am Curtis Institute of Music. Barber schrieb im idyllischen Sommer 1939 in der Schweiz an den ersten beiden Sätzen des Konzerts, bis dann der Zweite Weltkrieg ausbrach. Im September kehrte er heim in die Vereinigten Staaten und zog sich in die Pocono Mountains in Pennsylvania zurück. Die ersten beiden Sätze gefielen Briselli sehr, doch enttäuschte ihn der später fertiggestellte dritte; dieser fiele mit seiner brillant virtuosen Dauerbewegung inhaltlich ab. Doch Barber war nicht bereit, das Finale zu ändern: »Aber ich könnte einen Satz, in den ich volles Vertrauen habe, aus künstlerischer Aufrichtigkeit mir selbst gegenüber nicht zerstören.« Briselli spielte das Konzert also nicht, die beiden blieben aber Freunde. Barbers op. 14 wurde öffentlich 1941 unter Eugene Ormandy mit Albert Spalding in der Academy of Music in Philadelphia und dann in der Carnegie Hall aufgeführt und zählt seitdem zu den beliebtesten Konzerten des 20. Jahrhunderts; es wird mit seinem fulminanten Presto in moto perpetuo im 8. Symphoniekonzert in der Laeiszhalle zu hören sein.
Chronologisch zwischen Brahms und Barber ist Jean Sibelius’ spätromantisches Violinkonzert platziert, das in der gültigen Fassung 1905 in Berlin von Carl Halíř und der Berliner Hofkapelle unter Richard Strauss uraufgeführt wurde. Es ist nicht nur Sibelius’ einziges Violinkonzert, sondern zudem auch sein einziges Konzert. Sibelius erhielt auf dem Musikinstitut von Helsinki zwar Violinunterricht, doch hatte er erst mit 14 Jahren begonnen, sich ernsthaft für das Instrument zu interessieren, und so stand nicht das Virtuosentum, sondern immer die Komposition im Vordergrund seiner Ambitionen. Das Konzert op. 47, das im 2. Symphoniekonzert zu hören sein wird, weist trotz folkloristischer Klänge in die Moderne. Der Musikologe Donald Tovey hat den dritten Satz ob seiner energetischen Kraft bewundernd als »Polonaise für Eisbären« tituliert, und wollte man das Bild zurück auf den dritten Satz von Vivaldis diese Saison zu hörendem Konzert ausweiten, so müsste man da von einem »Menuett für vier Pinguine« sprechen. Aber diese bildplastischen Wortkonstruktionen sind lediglich Sprachkorsette, die die musikalischen Klang- körper nicht brauchen. Die von den Symphonikern Hamburg – Laeiszhalle Orchester gespielte Musik wird diese Saison abermals jenseits von Sprache Sinnkonstruktionen vermitteln.
Musik ist die höhere Potenz der Poesie. (Robert Schumann)
Die Violine spielt als vergoldete Bronzefigur in einem jugendstiligen Reigen Johann Strauß in seinem Denkmal im Wiener Stadtpark, das zu den am meisten fotografierten Stätten der Metropole gehört. Klanglich wird uns der Walzerkönig in dieser Saison in der Laeiszhalle mehrfach begegnen; allerdings nicht in einem Konzert, sondern in dialogisch aktivierter Form im Wechselspiel mit anderen Werken.
Strauß’ Walzer, der Urlaubseindrücke auf Föhr festhält – »Nordseebilder« op. 390 –, wird mit Chausson und Brahms in der 4. Morgen Musik kombiniert und nicht etwa mit anderen walzernden Wasserstücken wie seinem letzten Werk »An der Elbe« op. 477 oder »An der schönen blauen Donau« op. 314 – diese beiden Walzer sind indessen bereits in der 2. Morgen Musik zu hören und werden dort dann mit Schubert, Bach und Zender kombiniert. Durch diese Kontraste können wir nicht nur die symphonischen Introduktionen der Werke anders wahrnehmen, sondern auch die Jahrzehnte umspannende Schöpfungszeit der Walzer erfahren.
In der 1. Morgen Musik paart sich der Konzertwalzer »Rosen aus dem Süden« op. 388 nach Motiven aus Strauß’ Operette Das Spitzentuch der Königin mit seinem zur Eröffnung des Berliner Konzertsaals Königsbau 1889 komponierten »Kaiserwalzer« op. 437, der auf das politische Bündnis von Kaiser Wilhelm II. und Franz Joseph I. anspielt. Zwischen diesen Werken sind allerdings Arnold Schönbergs Klavierkonzert op. 42 sowie Mozarts »Haffner-Symphonie« platziert. Die neujahrskonzertliche Hörgewohnheit des drehenden Dreivierteltakts wird so herausgefordert, und die Ohren entdecken durch »Millionen Tön um Töne« neu das ewig Schöne.
Auch in der 3. Morgen Musik werden zwei Walzer erklingen: Ähnlich wie »An der schönen blauen Donau« sind auch »Künstlerleben« op. 316 und »Geschichten aus dem Wienerwald« op. 325 in der Nachfolge der entscheidenden Schlacht bei Königgrätz zu verorten, bei der der Deutsche Bund unter Führung Österreichs 1866 den Krieg gegen Preußen verloren hatte. Mithin wurden viele Bälle und Konzerte abgesagt, und in den Folgejahren gierte die Wiener Bevölkerung geradezu nach heiter bestätigender Unterhaltung. Doch auch hier werden Zwischentöne hörbar werden, da Goethes Diktum von der Musik, »Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen, / Zu überfüllen ihn mit ew’ger Schöne«, aufgeraut wird. Im Zusammenklang mit Mozart, Berg und Brahms werden Konzepte von Schönheit, Schicksal und Scheitern aufeinandertreffen und sich gegenseitig und uns klanglich befragen.
Die Musik reizt die Nachtigallen zum Liebesruf, die Möpse zum Kläffen. (Robert Schumann)
Kehren wir damit noch einmal zu Goethes Gedicht »Aussöhnung« und dem Inspirationswort dieser Saison, »Götterwert«, zurück. Der alte Dichterfürst schrieb das Poem nicht nur im Liebesschmerz über die ihn ablehnende Ulrike von Levetzow, sondern widmete es auch einer jungen Frau, einer umjubelten Künstlerin, einer Liebe von ihm: Maria Szymanowska, der ersten polnischen Berufspianistin, die ganz Europa bereiste, an königlichen Höfen in Berlin und London ebenso spielte wie hier in Hamburg, und die vom russischen Zarenhaus als »Erste Hofpianistin« dafür engagiert wurde, Unterricht zu erteilen. Ihre Kompositionen – von Chopin hochverehrt – bringen das Klavier bis heute ebenso zum empfindsamen Singen wie zum virtuosen Brillieren, auch wenn sie selbst 1831 viel zu früh mit nur 41 Jahren verstarb.
Goethe erlebte Szymanowska bei einem Konzert im Sommer 1823 in Marienbad, als er sich von den Trümmern seiner Liebe zur blutjungen Ulrike von Levetzow erschlagen glaubte. Es ist das Klavierspiel dieser Pianistin, das ihn die lebensbejahende Macht der Musik nicht nur erleben, sondern auch in Gedichtform übertragen lässt. Als Szymanowska im Herbst des Jahres für zwei Wochen nach Weimar kommt, intensiviert sich die Liebe – zur Musik und zur Musikerin. Doch die Pianistin setzt ihre Tournee fort, und die beiden sehen einander nicht wieder, bleiben aber brieflich in Kontakt. In den letzten Zeilen des Gedichts meißelt Goethe dem Klavierspiel Maria Szymanowskas ein Denkmal in Worte: »Da fühlte sich – o daß es ewig bliebe! – / Das Doppelglück der Töne wie der Liebe.«
Goethe berichtet in einem Brief an Carl Friedrich Zelter von dem Erlebnis:
»In völlig anderem Sinne und doch für mich von gleicher Wirkung, hört’ ich Mad. Szymanowska, eine unglaubliche Pianospielerin; sie darf wohl neben unsern Hummel gesetzt werden, nur dass sie eine schöne liebenswürdige polnische Frau ist [...]; hört sie aber auf und kommt und sieht einen an, so weiß man nicht, ob man sich nicht glücklich nennen soll, dass sie aufgehört hat?«
Die musikalische Faszination Goethes ist nicht auf die Ohren allein beschränkt, sondern ganz klar auch seinen Augen und anderen Sinnen zuzuschreiben, denn das Erlebnis der Pianistin bewegt sein ganzes Sein: »Madame Szymanovska aus Warschau, die fertigste und lieblichste Pianospielerin, hat auch ganz Neues in mir aufgeregt.« Kanzler von Müller notiert über die Pianistin in Weimar:
»Goethe gab eine große Abendgesellschaft jener interessanten polnischen Virtuosin, Mad. Marie Szymanowska zu Ehren, von der er uns schon so viel erzählt hatte [...] Auf sie hat er [...] die schönen gemütvollen Stanzen gedichtet, die er uns kürzlich vorgelesen und die seinen Dank dafür aussprechen, dass ihr seelenvolles Spiel seinem Gemüte zuerst wieder Beruhigung schaffte, als die Trennung von Levetzows ihm eine so tiefe Wunde schlug. Goethe war den ganzen Abend hindurch sehr heiter und galant, er weidete sich an dem allgemeinen Beifall, den Mad. Szymanowska eben so sehr durch ihre Persönlichkeit, als durch ihr seelenvolles Spiel fand.«
Die nächsten Tage fanden mehrfach Konzerte in Goethes Haus statt – Anfang November sogar ein öffentliches im Stadthaus. Kanzler von Müller berichtet vom anschließenden Souper, abermals bei Goethe, der eine schwärmerische Rede auf Szymanowska hielt, die in folgenden Worten gipfelt: »Fühlen wir uns nicht alle insgesamt durch diese liebenswürdige, edle Erscheinung, die uns jetzt wieder verlassen will, im Innersten erfrischt, verbessert, erweitert? Nein, sie kann uns nicht entschwinden, sie ist in unser innerstes Selbst übergegangen, sie lebt in uns mit uns fort und fange sie es auch an, wie sie wolle, mir zu entfliehen, ich halte sie immerdar fest in mir.« Wie viel erhebende Musik und wie viel erotische Magie haben sich im alten Dichter vermischt? Was genau hat seine Seele so tief bewegt und so hoch erhoben? Wie hat sich sein Selbst durch die musikalische Erfahrung verändert? Der gerade einmal 14-jährige Felix Mendelssohn Bartholdy war ebenfalls bei diesem Konzert anwesend und kommentierte das Geschehen in frecher Direktheit: »Die Szymanowska wird über Hummel gesetzt. Man hat ihr hübsches Gesicht mit ihrem Spiel verwechselt.«
Als Maria Szymanowska und ihre Schwester aus Weimar abreisen, erinnert sich Kanzler von Müller:
»Alle Anstrengung des Humors half nicht aus, [bei Goethe] die hervorbrechenden Tränen zurückzuhalten, sprachlos schloss er sie und ihre Schwester in seine Arme und sein Blick begleitete sie noch lange, als sie durch die lange offene Reihe der Gemächer entschwand. – ›Dieser holden Frau habe ich viel zu danken‹, sagte er mir später, ›ihre Bekanntschaft und ihr wundervolles Talent haben mich zuerst mir selbst wiedergegeben.‹«
Auch wenn sich Goethe als Theaterintendant und Autor immer wieder mit performativen Klängen auseinandergesetzt hat, so ist es doch erst die späte Begegnung mit Maria Szymanowska, die dem Liebesschmerz über Ulrike von Levetzow in gleichwertiger Gewalt die Macht der Musik als Erlösungsoption einer Befindlichkeit entgegensetzt: »Ihre Bekanntschaft und ihr wundervolles Talent haben mich zuerst mir selbst wiedergegeben«. Dieses Wiederfinden des Selbst in der sinnlich musikalischen Erfahrung ist die Aktivierung des Götterwerts – »der Töne wie der Tränen«.
Robert Schumann hat Maria Szymanowska über ihre Kompositionen kennengelernt und definiert diese in Zusammenführung von Flügelschlag, Götterwert und Himmelsbogen im Sprachbild: »Zarte blaue Schwingen sind’s, die die Waagschale weder drücken noch heben und die niemand hart angreifen möchte. [...] Der Name wird vielen eine schöne Erinnerung sein.« Er bewertet die Kompositionen mit einer männlich arroganten Hybris: »Sieht man auch überall das unsichre Weib, beson- ders in Form und Harmonie, so auch das musikalisch fühlende, das gern noch mehr sagen möchte, wenn es könnte.«
Eusebius (mischt sich plötzlich wieder ein) Das klingt mir jetzt aber zu negativ, abwertend und unkritisch aus einer zeitgenössischen Position heraus moniert. Schumann ist da doch gerade Mitte zwanzig – das Alter, in dem Michelangelo seine römische Pietà schuf –, als er leicht unterkühlt von den zarten, blauen Schwingen der von Szymanowska geschriebenen Musik spricht. Und er gibt zu: »An Erfindung und Charakter heißen wir sie jedenfalls das Bedeutendste, was die musikalische Frauenwelt bis jetzt geliefert.«
Florestan Goethe hingegen schwärmt regelrecht von der »Musik mit Engelschwingen«, die des Menschen Wesen ganz durchdringt, »zu überfüllen ihn mit ew’ger Schöne«. Aber ist das die erotisch stimulierte Sicht des alten Mannes auf die junge Frau? Goethe ist hier Mitte siebzig – ungefähr das Alter, in dem Michelangelo Anfang der 1550er-Jahre die Pietà Rondanini begonnen hat. Ist es der Schmerz des gebrochenen Herzens, der verletzten Seele, der für Musik empfänglich macht?
Eusebius Der Götterwert der Töne wie der Tränen lässt jedenfalls eine tief tröstende Lebenssehnsucht spüren; diese verhärtet zu Stein, aus dem sich nun sowohl jugendliche Schönheit als auch altersweise Erkenntnis feilen lassen.
Florestan Michelangelo wurde als junger Mann mit der römischen Pietà zum berühmtesten Künstler und hat als fast 90-jähriger Greis noch mit einer Kerze um die Stirn gebunden nachts an der Pietà Rondanini gearbeitet – sitzend, da ihm das Stehen schwerfiel –, auf der Suche nach einem kunstvollen Ausdruck für den Tod und seine göttliche Überwindung.
Eusebius Als Inspirationswort gemahnt der poetische »Götterwert« an die kostbare und seit drei Jahren eben nicht mehr selbstverständliche Möglichkeit, Menschen physisch zu erleben, die live miteinander musizieren und so mit uns durch Zeiten und Welten, durch Ideen und Gefühle hindurch kommunizieren.
Florestan Einlösen lässt sich dieser Götterwert in menschlicher Währung bei allen Konzerten der Symphoniker Hamburg – Laeiszhalle Orchester, zu denen wir Sie herzlich willkommen heißen!
Dr. Alexander Meier-Dörzenbach hat seine professorale Tätigkeit an der Hamburger Universität kurzzeitig für die Arbeit als Chefdramaturg des Aalto-Musiktheaters eingetauscht; längst arbeitet er freischaffend: als Operndramaturg (intensiv mit Stefan Herheim, u. a. bei den Bayreuther und den Salzburger Festspielen, in London, Amsterdam, Paris, Berlin, Wien, Kopenhagen, München), als Kulturlehrender an mehreren Universitäten und Hochschulen, als Kurator der Ausstellung Die Oper ist tot – Es lebe die Oper! 2022/2023 in der Bundeskunsthalle sowie dramaturgisch beim Lausitz Festival. Mehr lesen