»Le Temps et l'Écume« (1989) für vier Schlagzeuger, zwei Synthesizer und Kammerorchester

Manchmal scheint es, als lebten wir in einer vom Thema Zeit dominierten Zeit. Die Suche nach einem Impfstoff ist ein sprichwörtlicher Wettlauf gegen sie. Für die Rettung des Klimas bleiben uns wenige Jahre. Quantencomputer sollen bald so schnell rechnen, dass Frage und Antwort quasi zeitgleich auftauchen. Und in nur sieben verbleibenden Tagen wollen die Hamburger Parteien die Bürger noch überzeugen – als brauche es dafür nur ein paar Minuten Verführung.

Alles hat seine Zeit, nur Pausen gibt es nicht. Wie nehmen wir die Zeit also wahr? Viele sagen: schnell. Aber gibt es nicht auch den Moment, der nicht vergeht? Den unendlich langen Moment – die Krise?

Als Gérard Grisey, der schon im vergangenen Jahrhundert über »Medienzerstückelung« und »Überinformation« sinnierte, Ende der 1980er-Jahre »Die Zeit und der Schaum« schrieb, stand die große Europäische Zeitenwende noch genauso bevor wie unsere Smartphone-Simultanität. Doch seine Reflexionen über die Zeit sind möglicherweise noch heute aussagekräftiger als mancher Essay. Er unterschied drei Geschwindigkeiten: Die der Sprache, die deutlich verlangsamte Spektralzeit sowie die extrem beschleunigte Zeit. All das hören wir in diesem Werk. Und – da wird es noch spannender – wir hören, wie sich diese Zeitebenen überlagern. In dieser Musik erleben wir das, was fehlt: Pausen, Zeitlupen, Details verdeutlichende Wiederholungen, Kontraste, Zerdehnung und Komprimierung.

Kaum ein Komponist des 20. Jahrhunderts hat so radikal die Voraussetzungen seines Schaffens immer wieder neu in Frage gestellt wie Gérard Grisey. Er gilt als der Gründungsvater und Hauptvertreter der musique spectrale und beschrieb seine Arbeit einmal so: »Die verschiedenen Prozesse, die bei der Veränderung eines Klanges in einen anderen oder einer Klanggruppe in eine andere auftreten, bilden die eigentliche Basis meiner Schreibweise, die Idee und den Keim jeder Komposition.« Übrigens bevorzugte er die Bezeichnung »musique liminale«, was so viel heißt wie »Schwellenmusik«: Das Hören könne, sobald es eine Schwelle überschreite, in »ein anderes Hören« umschlagen...

Geboren wurde Gérard Grisey am 17. Juni 1946 im französischen Belfort. Schon früh versuchte er sich im Komponieren, studierte in Trossingen und Paris – etwa bei Olivier Messiaen und Henri Dutilleux. Außerdem erhielt er Unterricht von György Ligeti und Karlheinz Stockhausen, sprach sich gegen die damals viel beachtete serielle Musik aus und gründete 1973 mit befreundeten Komponisten die Gruppe »L’Itinéraire«. Später lehrte er in Berkley und Paris und starb am 11. November 1998 unerwartet an einer Aneurysma-Ruptur. Am Sonntag, 19.04.20, folgt das letzte Pro-Log-Konzert dieser Spielzeit: »Quatre chants pour franchir le seuil« (1998) für Sopran und 15 Instrumente – mit der Sopranistin Katrien Baerts und einem weiteren Zeit-Thema: der Schwelle vom Leben zum Tod.

Gérard Grisey
Gérard Grisey

Historie

16.02.2020 - Fensterhaken: Grisey

 Vorkonzert zum 6. Symphoniekonzert 

Gérard Grisey »Le Temps et l'Écume« (1989) für vier Schlagzeuger, zwei Synthesizer und Kammerorchester

Sylvain Cambreling Dirigent