Schon der Blick in die Partitur lässt staunen: Für Holz- und Blechbläser, Akkordeon, Streicher und Schlagwerk listet Gérard Grisey eine stattliche Anzahl an Zeichen, Abkürzungen und beinahe malerisch gekräuselten Linien auf. Zwar erkennen wir hier und da bekannte dynamische, metrische und Tonhöhen-Angaben wieder. Doch verwirren vor allem auf den ersten Seiten die äußerst lang gehaltenen Töne. Mit der Notenschrift beispielsweise einer klassischen Symphonie hat dies nicht mehr viel zu tun.
»Partiels« – so der Titel dieser Gründungskomposition der Spektralmusik von 1975 – ließe sich frei assoziierend mit Teile, Bruchstücke oder auch Obertöne übersetzen. Entsprechend ist der Beginn gestaltet: Posaune und Kontrabass präsentieren uns ein tiefes E. Und darüber schichten die anderen Instrumente nach und nach dazugehörige Teiltöne. Normalerweise vollzieht sich die Klangentwicklung sehr viel schneller. Doch Grisey möchte uns daran analytisch teilhaben lassen. Wir hören das »Einschwingen« des Tones also extrem gedehnt. Das Spannende ist: Es bleibt nicht bei kalter Analyse – das Hören ist ein äußerst sinnlicher Vorgang. Oder anders: Zwar verlangt Grisey den 18 Musikern mit den vielen Sonderzeichen eine immense Konzentration ab – doch das Ergebnis scheint beinahe spielerisch. Grisey selbst beschrieb seine Arbeit einmal so: »Die verschiedenen Prozesse, die bei der Veränderung eines Klanges in einen anderen oder einer Klanggruppe in eine andere auftreten, bilden die eigentliche Basis meiner Schreibweise, die Idee und den Keim jeder Komposition.« Übrigens bevorzugte er die Bezeichnung »musique liminale«, was so viel heißt wie »Schwellenmusik«: Das Hören könne, sobald es eine Schwelle überschreite, in »ein anderes Hören« umschlagen...
Unser Hören, das im Laufe von »Partiels« geöffnet und gereinigt wird, muss sich dabei durchaus von Vertrautem verabschieden. Beispielsweise, wenn Grisey aus dem Obertonspektrum Einzeltöne hervorhebt, die nicht mehr tonal-harmonisch »passen« bzw. nicht mehr im Bachschen Sinne wohltemperiert sind. Es geht, so erleben wir ganz sinnlich, um den Klang an sich, nicht nur um so etwas wie den Wohlklang. Es geht um der Musik immanente Widersprüche, um ein Schweben zwischen Kon- und Dissonanz. Gérard Grisey, der große Worte (»wir stehen dem Unerhörten gegenüber«) nicht scheute und mit markigen (vielleicht zum Teil ironischen?) Sprüchen der musikalischen Tradition den Kampf ansagte, wusste dieses Prinzip gesellschafts-theoretisch einzubetten: Er sah den Künstler in der Pflicht, sich den Zumutungen von ständigem Geräusch, Überinformation und fragmentarischer Weltwahrnehmung zu entziehen – und diese (heute sogar noch verstärkten) Phänomene zugleich mit künstlerischen Mitteln zu reflektieren. Die heutige Aufführung dieses in der Musikgeschichte zentralen Werkes durch die Symphoniker Hamburg – die sich selbst als »denkendes Orchester« verstehen – liegt also nahe. (Text von Olaf Dittmann)
Geboren wurde Gérard Grisey am 17. Juni 1946 im französischen Belfort. Schon früh versuchte er sich im Komponieren, studierte in Trossingen und Paris – etwa bei Olivier Messiaen und Henri Dutilleux. Außerdem erhielt er Unterricht von György Ligeti und Karlheinz Stockhausen, sprach sich gegen die damals viel beachtete serielle Musik aus und gründete 1973 mit befreundeten Komponisten die Gruppe »L’Itinéraire«. (Das »Ensemble l’Itinéaire« spielte im März 1976 unter der Leitung von Boris de Vinogradov in Paris die Uraufführung von »Partiels«, des dritten Teils aus dem Zyklus »Espaces acous- tiques«.) Später lehrte er in Berkley und Paris und starb am 11. November 1998 unerwartet an einer Aneurysma-Ruptur.
Ein aussagekräftiges Zitat Griseys stammt aus seinen letzten Lebensjahren: »Zerhackt durch die Medienzerstückelung, ertränkt in der Überinformation, gemessen am Zeitalter des Zappings und Videoclips: Jene Zeit, die Bataille ›heilig‹ nannte, die Zeit der Kunst, der Liebe und der Kreativität, jenen Augenblick, aus dem nie Dagewesenes auftaucht, kann der Künstler nur bewahren, wenn er der Umwelt unseres ausgehenden 20. Jahrhunderts praktisch absoluten Widerstand leistet. Und dennoch ist es diese Welt, die seine Fragestellung provoziert. Dem diskontinuierlichen Informationsfluss entspricht eine Musik, die wieder zu Einheit und Kontinuität zurückfindet. Eine Musik, so träge wie der Winter, das umgekehrte Echo einer gestressten, hektischen Welt.«
22.09.2019 - Fensteröffnung: Grisey
Vorkonzert zum 1. Symphoniekonzert
Gérard Grisey Partiels
Sylvain Cambreling Dirigent