Deutscher Titel: »Das Martyrium des Heiligen Sebastian«
Text: Gabriele D’Annunzio / Fassung: Martin Mosebach
Uraufführung: 22. Mai 1911 im Théâtre du Châtelet, Paris
Dauer: ca. 80 Minuten (Originalversion: ca. 5 Stunden)
Ein Hauptmann der Prätorianergarde, der sich zum Christentum bekennt? Das konnte Kaiser Diokletian Ende des dritten Jahrhunderts in Rom nicht unbestraft lassen. Er befahl, Sebastian mit dem Bogen zu erschießen. Doch der elegante Soldat, der der Legende nach sowohl mit gutem Benehmen als auch mit einem attraktiven Äußeren und sehr viriler Männlichkeit ausgestattet gewesen sein soll, war nicht so leicht zu beseitigen: Von der Witwe Irene ließ er sich gesund pflegen, ging erneut zum kaiserlichen Hof und sprach wiederholt öffentlich von seinem Glauben. Keulenschläge brachten ihn schließlich um.
Seit dem vierten Jahrhundert verehrt ihn die katholische Kirche als Heiligen, und auch die Protestanten erinnern noch heute an Sebastian. Er hilft bei Pest und anderen Seuchen, hält Brunnen sauber und ist Patron der Sterbenden, der Polizisten sowie beispielsweise der Steinmetze. Auf zahllosen Gemälden ist er mit blutigen Wunden und Pfeilen in der Brust oder auch mit Schild und Schwert zu sehen. Seit der Neuzeit dominieren jedoch Darstellungen als kräftiger, schöner Mann – kurz: als eine Art Nachfahre des griechischen Adonis.
Dass in der Uraufführung von »Das Martyrium des Heiligen Sebastian« 1911 eine Frau die Hauptrolle übernahm, beruht auf der Entstehungsgeschichte: Ida Rubinstein, eine wohlhabende, jüdische Tänzerin der von Sergei Diaghilew gegründeten Ballets Russes, beauftragte Gabriele D’Annunzio mit der Erstellung des Librettos sowie Claude Debussy mit der Komposition der Musik – und verkörperte den Heiligen Sebastian auf der Bühne schließlich höchstselbst. Der Pariser Erzbischof zürnte: Ein Heiliger werde unwürdig dargestellt. Und Debussy meinte nur: »Ist der Glaube, den meine Musik ausdrückt, orthodox oder nicht? Ich weiß es nicht. Es ist mein Glaube, der mit aller Aufrichtigkeit singt.«
So waren es in erster Linie der (formvollendete) Tanz der Ida Rubinstein, der die Kirche gegen das Werk aufbrachte, sowie der (ausufernde) Text, der die Uraufführung zu einem Misserfolg auch beim ungläubigen Publikum machte; in der Überlieferung ist gar von einem »Fiasko« die Rede. Denn Gabriele D’Annunzio hatte ein etwa vier Stunden dauerndes Stück geschaffen, das mitsamt schwülstiger Jahrhundertwende-Metaphorik für ausgiebiges Gähnen sorgte – während Debussys Musik, die in nur drei Monaten entstand und von André Caplet instrumentiert wurde, deren künstlerischer Gehalt aber ungleich höher anzusetzen ist als der Urtext, rund eine Stunde dauert.
Als Sylvain Cambreling, seit Herbst 2018 neuer Chefdirigent der Symphoniker Hamburg, »Das Martyrium des Heiligen Sebastian« 2005 aufführte und auf CD aufnahm, bat er den Schriftsteller Martin Mosebach folgerichtig um eine Neufassung. Dieser erläuterte damals seine Arbeit: »D‘Annunzio hat sein Drama vom Apostolat und dem Martyrium des heiligen Sebastian, der durch die europäische Kunst zu einem der bekanntesten Heiligen geworden ist, bei aller Freiheit doch recht deutlich an die mittelalterliche Heiligen-Vita der Legenda Aurea angelehnt. Statt der langen Szenen und Dialoge, die in D’Annunzios Libretto zwischen den Musikstücken, den Arien und Chören vorgesehen waren, wird eine Erzählerin deshalb, zum Teil unter Verwendung von Texten aus der Legenda Aurea und aus den Paulus-Briefen, den Gang der Handlung andeuten und den Konflikt skizzieren, in den Sebastian geriet, als er den Heiden mit ihren Göttern den Anspruch seines neuen Gottes entgegenhielt.«
Aus fünf »Handlungen« besteht das »Martyrium«, die verschiedene Stationen aus Sebastians Lebensweg schildern. Die erste trägt den Titel »Der Hof der Lilien« und beschreibt das tatkräftige Eingreifen des Helden in das Schicksal des Zwillingspaares Marcus und Marcellianus. Die beiden wurden zum Tode verurteilt, da sie an Christus glauben. Sebastian ruft nun den Himmel um ein Zeichen an: Er schießt einen Bogen in die Lüfte – der nicht wieder zum Boden zurückfliegt. Und er tanzt auf glühenden Kohlen – die sich daraufhin in Lilien verwandeln.
Die zweite Handlung zeigt uns »Das magische Zimmer«, in dem der kranke Präfekt der Stadt Rom Götzenbilder aufbewahrt. Als Sebastian die Kammer samt Inhalt zerstören lässt, wird der Besitzer plötzlich wieder gesund – ein Zeichen, das unmissverständlich den Weg vom falschen zum richtigen Glauben weist. (Die Jungfrau Erigone, deren Stimme zwischendurch zu hören ist, entstammt übrigens der griechischen Mythologie: Sie ist die Tochter des Ikaros, die sich selbst erhängt und im Sternbild Jungfrau weiterlebt.)
In »Das Konzil der falschen Götter« wird Sebastians Glaubensbekenntnis auf beinahe philosophischer Ebene behandelt: Warum verhält er sich zu seinem Kaiser Diokletian nicht loyal? Warum glaubt er an einen neuen Gott? Und warum lässt er diesen Gott sich nicht einfach einreihen in die Gruppe der alten Götter? Das wäre doch am einfachsten... Doch Sebastian bleibt stur – sonst wäre er ja auch kein Heiliger geworden.
Er wird also verurteilt und an einen Lorbeerbaum gebunden, an dem er von Pfeilen durchbohrt werden soll. In der vierten Handlung »Der verwundete Lorbeer« erfahren wir, wie Sebastian im Moment des Todes die Gestalt des guten Hirten erblickt und von den Frauen von Byblos beweint wird. Nun ist er ein echter Märtyrer, und zum Abschluss wird er in »Das Paradies« von Heiligen und Engeln ebendort begrüßt.
Debussys Musik, die dieses Tableau verschiedener Situationen ausmalt, ist aus verschiedenen Gründen sehr speziell: Zum einen schuf er mehrere sehr unterschiedliche Formen, etwa Orchesterzwischenspiele, Arien und Chorpassagen. (So bleibt es auch nach wie vor – wie schon damals bei der Uraufführung – schwer zu sagen, ob es sich bei dem Werk um eine Oper, ein Oratorium, ein Ballett, ein Theaterstück mit Musik oder etwas gänzlich anderes handelt.) Und zum anderen vermochte er es, seinen »Glauben, der mit aller Aufrichtigkeit singt«, in sehr zarten, leisen, tonal-melodiösen Klangflächen auszudrücken, die irgendwo zwischen sehr alter Musik, dem Impressionismus, Wagners »Parsifal« und damals noch unbekannten, aber richtungsweisenden Sounds der kommenden Moderne anzusiedeln sind. So gehört dieses in jeder Hinsicht Eindruck hinterlassende »Martyrium« zu den geheimnisvollsten und zart-blühendsten Werken in Debussys an musikalischen Mysterien ohnehin nicht armem Œuvre.
05.02.2019 - Heiliger Sebastian
Sylvain Cambreling, Lauryna Bendžiūnaitė, Agata Schmidt, Stine Marie Fischer, Dörte Lyssewski, EUROPA CHOR AKADEMIE GÖRLITZ, Joshard Daus
Debussy »Das Martyrium des Heiligen Sebastian«