An der Schwelle des Todes – Als Todkranker trat Gustav Mahler im April 1911 die Heimreise von seinem Engagement bei den New Yorker Philharmonikern an. Nach vergeblicher ärztlicher Behandlung in Paris kehrte er im Mai nach Wien zurück, wo er schließlich in seinem 51. Lebensjahr starb. Mahlers abergläubischer Versuch, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, indem er das »Lied von der Erde« bewusst nicht als Symphonie gezählt hatte, sollte nichts fruchten. Auch er kam wie Beethoven, Schubert und Bruckner nicht über die bedeutungsvolle Zahl Neun hinaus: Seine Symphonie Nr. 10 blieb Fragment.
Doch dieses Adagio ist so vollkommen, dass man eine Absicht hinter der fragmentarischen Gestalt vermuten könnte. Das »Fragment« – vom lateinischen »frangere« (zerbrechen) – galt in der Literatur der Frühromantik als erstrebenswerte Kategorie: Das Bruchstückhafte soll den Leser zu eigenen Gedanken anregen und ihm bewusst machen, dass der Künstler nach Vollendung strebt, ohne sie doch schon zu besitzen. Ein schönes Bild wählte der Romantiker Friedrich Schlegel: »Ein Fragment muss gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.« Als solches stachelt das Unvollendete zur eigenen Auseinandersetzung an, reißt aus der Bequemlichkeit der fertigen Hülle.
In diesem Adagio, seiner letzten symphonischen Komposition, hatte Mahler die Tür zur Atonalität mit einem markerschütternd dissonanten Akkord weit aufgestoßen. Die Integration von »banalen«, volksmusikhaften Elementen, die sonst durchaus Bestandteil seines Stils gewesen war, vermied er hier allerdings weitgehend. Dieses Adagio ist die Essenz spätromantischer schmerzvoller Schönheit: Ein Gesang der Liebe und der Klage in nie nachlassender emotionaler Intensität und todestrunkener Melancholie.
In diesem seelenwunden Adagio, das schon an der Schwelle des Todes steht, spiegelt sich nicht nur die eigene Sterblichkeit, sondern auch Mahlers verlorene Liebe. Der Sommer 1910 war vom rapide sich verschlechternden Gesundheitszustand des herzkranken Mahler und von einer schweren Ehekrise überschattet: Alma Mahler hatte sich während eines Kuraufenthalts in den jungen Architekten Walter Gropius verliebt. Die Affäre kam nach längeren Beziehungsproblemen nicht unerwartet und traf Mahler doch so tief, dass sich sogar bei Sigmund Freud auf die Couch legte. Das Manuskript der Zehnten, die in dieser Zeit entstand, ist voller verzweifelter Randkritzeleien Mahlers: »Für dich leben! Für dich sterben! Almschi!« – »Der Teufel tanzt es mit mir« – »Dein Wille geschehe!« oder »Leb wohl, mein Saitenspiel!« Vier Sätze skizzierte er in unterschiedlicher Ausführlichkeit, doch nur das Adagio brachte er in einen fast vollendeten Zustand.
15.04.2018 - Das Lied von der Erde
Ion Marin Dirigent
Jennifer Johnston Mezzosopran
Brenden Gunnell Tenor
Werke von Mahler