Entstehung: 1916
Uraufführung: 1. November 1922 in Warschau (Solist: Józef Ozimiński, Dirigent: Emil Młynarski)
Widmung: Paweł Kochański
Spieldauer: ca. 25 Minuten
Epochenwechsel. Oder noch gewichtiger: Zeitenwende. An Wahltagen wie heute werden Worte wie diese gern verwandt – auch wenn das Handeln der Politik einige Zeit später möglicherweise gar nicht so gewichtig sein mag. Doch ist es nicht das Kennzeichen von letztlich nachhaltigen Veränderungen, dass diese nur in kleinen Schritten nach vorn und immer wieder auch zurück bestehen? Für die Symphoniker Hamburg, die sich selbst als »denkendes Orchester« verstehen, ist die Musik nie etwas Feststehendes, das gleichermaßen museal präsentiert werden muss. Vielmehr sehen sie den Gegenstand ihrer Arbeit als einen Prozess: Ein Ton ist ohne den folgenden beziehungs- und somit gegenstandslos. In der Kombination wird aus Dur Moll. Und aus einem Ende ein Anfang. Ein Konzert ist nicht die Reproduktion des Bekannten, sondern ein gemeinsames Bekenntnis von Publikum und Musikern zu einer sehr besonderen Form der Weltsicht, (beinahe) mit gänzlich offenem Ausgang. Wer Musik macht oder hört, erlebt Zeit – und somit Veränderung – anders.
Die Werke des heutigen Abends stehen für eine musikgeschichtliche Zeitenwende. In diesem Fall ist dieses gewichtige Wort durchaus angemessen, denn vor 100 Jahren ereignete sich parallel zum Weltgeschehen ein Umbruch in der Musik, der lange Gewohntes völlig in Frage stellte. Wie wir hören, gibt es aber auch hier manchen Schritt vor und manchen zurück. Es gibt Überschneidungen, Rückbezüge neben mutigen Vorausschauen in noch unbekannte Welten.
Karol Szymanowski, noch ein Kind des 19. Jahrhunderts, war immer viel durch (West-)Europa und somit durch die Musikgeschichte gereist – sogar nach Nordafrika verschlug es ihn einmal. Einige Jahre lebte er in Italien und Wien und kehrte erst 1919 nach Polen zurück. Der Neugierige experimentierte gern. Er entwickelte eine Art »polnischen Impressionismus« und hatte um die Jahrhundertwende zur Komponistengruppe »Junges Polen« gehört. Einflüsse von Strawinsky und Ravel waren stets deutlich, oder auch von Skrjabin und Bartók. Nicht immer nahm er es so genau mit den Grenzen der Tonalität.
Mitten im Ersten Weltkrieg entstand sein erstes Violinkonzert. Ebenso wie im Fall des Österreichers Alexander von Zemlinsky verwundert es, dass Szymanowski heute eher wenig Beachtung erfährt. (Nicht eben gar keine, aber doch deutlich weniger als beispielsweise Mahler, Richard Strauss, Schönberg oder Berg.) Denn dieses Violinkonzert, das der Komponist selbst beinahe verniedlichend als »unerhört fantastisch und überraschend« beschrieb, ist nichts weniger als bahnbrechend. Es läutet eine Zeitenwende ein. Es ist das erste wahrlich moderne Violinkonzert der Musikgeschichte.
Formal ist es als nur ein Satz, als ein stetes Fließen gestaltet. Zwar lassen sich fünf Abschnitte ausmachen, diese sind aber wohl eher als Phasen einer großen Fantasie zu verstehen: Das »Vivace assai« beherrscht ein märchenhafter und das »Andantino« ein leidenschaftlich gesanglicher Ton. Es folgt ein Scherzo, bevor das Konzert mit einem Nachtstück an vierter sowie einem »Vivace« an fünfter Stelle schließt, welches neben einer Solokadenz eine Rückschau auf die vorigen Abschnitte beinhaltet.
Als Inspiration für das Konzert diente ein Gedicht von Szymanowskis Landsmann Tadeusz Miciński mit dem Titel »Noc majowa« (Mainacht). Und ebenso romantisch gestaltete Szymanowski manche Phase – die große Tradition der virtuosen Violinkonzerte des 19. Jahrhunderts verwarf er nicht vollends. Er verstand es aber, einen überbordenden Mix aus Impressionismus, Exotismus und Avantgarde zu schaffen, der eben nicht eklektizistisch auseinanderfällt. Und so ist der Grundcharakter bestechend neu: Die Harmonien dieses Individual-Expressionismus entfernen sich unbestreitbar vom tonalen System, das noch weitgehend die Spätromantik Mahlers und Richard Strauss‘ prägte. Dass das Werk mit einem kaum greifbaren Klangteppich beginnt, über den sich die Violine gesanglich, aber ebenso frei schwebend ausbreitet – und dass es schließlich in hoher Lage zu Tontupfern aus dem Orchester entschwindet, dürfte kein Zufall sein: Was wir hören, ist eine komponierte Offenheit, die das Ziel der ästhetischen Veränderungen nicht fixiert, sondern dem Prozess selbst überlässt.
26.05.2019 - Traum und Wirklichkeit
Lorenzo Viotti Dirigent
Guy Braunstein, Emily Magee, Bo Skovhus
Werke von Szymanowski und Zemlinsky