Es folgt ein Sprung von fast 300 Jahren: Igor Strawinskys »Die Geschichte vom Soldaten« von 1918 erzählt die Geschichte eines Soldaten, der mit dem Teufel einen Pakt schließt. »Man soll zu dem, was man besitzt, begehren nicht, was früher war. Man kann zugleich nicht der sein, der man ist und der man war. Man kann nicht alles haben. Was war, kehrt nicht zurück.« Diese Moral steht am Schluss des Werkes, das am Ende des Ersten Weltkriegs Epoche machte. Die Mahnung »Man kann nicht alles haben« soll nicht zynisch klingen; die Fabel von Strawinskys 1917 entstandenem Musiktheater ist weniger sozialpolitisch als psychologisch verstehen: Wer dem übermäßigen Reichtum fröhnt, sich innerlich also an Äußerlich- keiten bindet, wird nicht glücklich.
In der deutschen Literatur spielt das Motiv des Teufelspakts bekanntlich eine zentrale Rolle: Johann Georg Faust war zur Zeit der Reformation im heutigen Baden-Württemberg als Wunderheiler und Wahrsager unterwegs und gilt als historische Vorlage für die Faust-Sage. Goethe schuf mit seinem »Faust« daraus einen Höhepunkt der Weltliteratur. Und Thomas Mann gelang nach dem Zweiten Weltkrieg – also freilich nach der »Geschichte vom Soldaten« – mit seiner fiktiven Komponisten-Biografie »Doktor Faustus« eine beeindruckende ästhetische Erklärung des Faschismus.
Für die Textgrundlage der »Geschichte vom Soldaten« griff der Dichter Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947) allerdings auf eine Sammlung russischer Märchen zurück. – Wie kam es zu der Zusammenarbeit von Strawinsky und Ramuz? Die Oktoberrevolution bedeutete für den Komponisten, der die Zeit des Ersten Weltkrieges im schweizerischen Exil verbrachte, einen herben Verlust: Alle Einnahmen, die er aus Russland zu erwarten hatte, waren verloren. Wie Werner Krützfeldt in seiner 2000 erschienenen Analyse des Werks deutlich macht, fasste Strawinsky daraufhin den Plan, mit einer Wanderbühne auf Tournee zu gehen, um für den finanziellen Unterhalt zu sorgen. Strawinskys reisendes Kammerorchester ist bewusst klein gehalten und umfasst nur die »repräsentativen« Instrumente: »[...] von den Streichern also Violine und Kontrabass«, so Strawinsky. »Von den Holzbläsern die Klarinette – weil sie das größte Register hat – und das Fagott; vom Blech Trompete [eigentlich: Kornett] und Posaune und endlich Schlaginstrumente, soweit sie von einem einzigen Musiker bedient werden können [...]«
Das Stück beginnt mit einem flotten Marsch. Die Trompete und die Posaune geben mit ihren punktierten Rhythmen und kurzen Stakkato-Figuren eine ausgelassene Atmosphäre vor. Der Erzähler berichtet im Rhythmus der Musik: »Zwischen Chur und Wallenstadt heimwärts wandert ein Soldat.« Hin und wieder wirft er Brocken seiner Erzählung ein, zunächst darf sich aber die für Strawinsky so typische Musik entfalten: Ob es sich um Dur oder Moll handelt, bleibt offen; mitunter spielen die einzelnen Instrumente polyrhythmisch, also jeweils mit unterschiedlichen Betonungen; zudem wechseln die Taktarten, etwa vom Zweier- zum Dreier- zum Fünfer-Takt. Mit musikalischen Mitteln innere Zustände der Figuren auszudrücken – davon hielt Strawinsky nicht viel. Ihm ging die Form über den Ausdruck. Und dennoch drückt auch die Form hier einiges aus. Ramuz lobte: Strawinsky sei »[...] ein Mensch, und ein ganzer Mensch: das heißt, raffiniert und gleichzeitig primitiv [...], einer, der schwierigster geistiger Kombinationen und gleichzeitig spontanster und direktester Reaktionen fähig ist.«
17.06.2018 - Schmelztiegel der Nationen
Musiker: Elmar Hönig, Adrian Iliescu, Satoko Koike, Sangyoon Lee, Gabriel Faur und Eri Mantani
Werke von Saint-Saëns, Ravel, Copland, Martinů und Brücher
24.06.2019 - Große Geschichtenerzähler
Martha Argerich, Annie Dutoit, Luigi Maio, Charles Dutoit, Chantal Juillet, Rafael da Cunha, Elmar Hönig, Christian Ganzhorn, Manuel Mischel, Mateusz Dwulecki, Andreas Suworow, Denis Untila, Yuki Kishimoto