›Aus jüdischer Volkspoesie‹ Liederzyklus für Sopran, Alt und Tenor und Orchester op. 79a

Entstehung: 1948 (Klavierfassung)
Uraufführung: 1963 in Berlin unter Kurt Sanderling (Orchesterfassung)
Spieldauer: ca. 25 Minuten

Dass die Symphoniker Hamburg im Rahmen ihres Reformationsprojektes zur Lutherdekade jüdische Musik spielen, mutet vielleicht überraschend an. Denn wie die in Oxford lehrende Historikerin Lyndal Roper in ihrer jüngst auf Deutsch erschienenen Biografie »Der Mensch Martin Luther« eindrucksvoll beschreibt, hielt sich der vielgerühmte Reformator nicht mit ziemlich abstoßenden antisemitischen Äußerungen zurück.

Andererseits lässt sich Luthers Wirken in direkter geistesgeschichtlicher Linie des Humanismus verstehen. Denn ging es ihm nicht ebenso wie dem Humanismus um die Emanzipation und Freiheit des Menschen? Luther kämpfte für die radikale Theologie der »Freiheit des Christenmenschen« und bekannte überzeugt: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« Und Faust spricht die Humanismus-Worte »Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!« natürlich, bevor ihm Mephisto begegnet. Bei Luther und bei Goethe ist der Mensch eins mit sich.

Darum geht es den Symphonikern mit ihrem 2012 gestarteten Reformationsprojekt: Sie wollen zeigen, welche Spuren Luther in der Musikgeschichte hinterlassen hat. Und wenn sie die jetzige sechste und letzte Projektphase mit »Hier bin ich Mensch!« überschreiben und heute Abend Schostakowitsch' Liederzyklus »Aus jüdischer Volkspoesie« spielen, wollen sie deutlich machen, dass in diesem Werk eben genau jenes Menschsein enthalten ist, von dem uns der durch Luther geprägte Humanismus erzählt.

Denn das jüdische Leben, das die Lieder beschreiben, Leid und Freud, Trauer und Glück – dieses Leben ist ein allgemein menschliches. Zudem schrieb Schostakowitsch den Zyklus nur wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und bezog so eine durchweg humanistische Position: Nach Ende des Holocausts verschafft er den Juden wieder eine Stimme.

Allerdings gibt es – wie so oft bei Schostakowitsch – auch eine politische Komponente: Während er in den ersten Liedern (die Texte stammen aus einem ins Russische übersetzen Band mit jüdischen Volksweisen) beschreibt, wie das jüdische Volk im Zarenreich gelitten hat, künden die letzten drei, vermutlich aus vorauseilendem Zensur-Gehorsam, vom »Glück« der Sowjetzeit: »Du kleines Flüsschen, fließ munter dahin, erfreu meinen Lieben das Herz und den Sinn. Erzähl, dass mein Haus im Kolchos ich fand«, heißt es im 9. Lied »Das schöne neue Leben«. Und das, obwohl von einem glücklichen jüdischen Leben auch unter Stalin eigentlich nicht die Rede sein konnte. (Entsprechend hatte es das Werk in Russland schwer. Die Klavierfassung wurde erst 1956 und die Orchesterfassung erst 1963 im Ausland uraufgeführt.)

Die Sänger der heutigen Aufführung sind mit der Musik Schostakowitsch' bestens vertraut. Sie kommen von der Akademie des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg, wo sie schon große Erfolge feierten. Für dieses Konzert wurden Natalia Pavlova, Irina Shishkova und Ilya Selivanov persönlich von der Schwester des Dirigenten Valery Gergiev ausgewählt, welche die Akademie betreut.

Dmitri Schostakowitsch
Dmitri Schostakowitsch

Historie

13.11.2016 - Lied der Nacht

Dirigent: Ion Marin

Sopran: Natalia Pavlova

Mezzosopran: Irina Shishkova

Tenor: Ilya Selivanov