Klavierquartett g-Moll op. 25 (für Orchester gesetzt von Arnold Schönberg)

Vier Symphonien schrieb der gebürtige Hamburger Johannes Brahms. Darüber sollte wohl kein Zweifel bestehen. Doch 40 Jahre nach seinem Tod war dies gar nicht mehr so sicher. Als der Dirigent Otto Klemperer 1937 in Los Angeles ein großes Orchesterwerk zur Uraufführung brachte, sprachen manche von Brahms‘ »fünfter Symphonie«. Oder, was noch präziser gewesen wäre: von seiner »Nullten«. Denn was der im US-amerikanischen Exil lebende Komponist Arnold Schönberg aus Brahms‘ erstem Klavierquartett gemacht hatte, hatte das Zeug zu einem Brahms-Original im Großformat. Klemperer meinte gar: »Man mag das Originalquartett gar nicht mehr hören, so schön klingt die Bearbeitung.«

Das ist natürlich maßlos übertrieben – ist doch die Vorlage von jeher bezaubernd, und wird sie doch immer wieder mal gern gespielt. Dies wusste natürlich auch Schönberg. Allerdings nannte er drei triftige Gründe für seine rund 45 Minuten lange Bearbeitung: »1. Ich liebe das Stück. 2. Es wird selten gespielt. 3. Es wird immer sehr schlecht gespielt, weil der Pianist desto lauter spielt je besser er ist, und man nichts von den Streichern hört. Ich wollte einmal alles hören, und das habe ich erreicht.« Er habe den Klang des Originals einfach »auf das Orchester übertragen« wollen.

Und tatsächlich: Mitunter scheint es, als habe das Ende der 1850er-Jahre, also noch in Brahms’ jungen Jahren, entstandene und in Hamburg uraufgeführte Klavierquartett nur darauf gewartet, in eine Orchesterfassung überführt zu werden. Denn das musikalische Basismaterial, das Schönberg übrigens kaum verändert, wird gewissermaßen in Freiheit entlassen: Es entfaltet sich nicht mehr im vergleichsweise kleinen Raum von Klavier und drei Streichern, sondern breitet sich auf der Spielwiese von zahlreichen Orchesterstimmen aus. Auch wenn Schönberg (der zeitlebens mit Bearbeitungen von kleiner zu großer Besetzung und umgekehrt Geld verdiente) seine Absicht so beschrieb: »Streng im Stil von Brahms zu bleiben und nicht weiter zu gehen, als er selbst gegangen wäre, wenn er heute noch lebte«: Natürlich arbeitet der Bearbeiter mit einer Instrumentierung und einer Klangmischung, die zum Teil eher im 20. als im 19. Jahrhundert zuhause sind. Insofern hätte Brahms diese »nullte« Symphonie, exakt so wie sie hier zu hören ist, kaum selbst geschrieben. Aber die Übertragung bleibt stets ehrerbietig und fällt dem Original nie in den Rücken. Im Gegenteil: Sie bringt dessen Stärken noch mehr zur Geltung.

Gleich die ersten Takte des ersten Satzes »Allegro« verdeutlichen den Freiheitsgewinn. In Brahms’ Klavierquartett stellt das Klavier das Hauptthema des ersten Satzes vor: Im 4/4-Takt hören wir die kraftvolle, aber abgedunkelte, abwärtsschreitende Figur. Es braucht einige Zeit, bis es die drei Streicher zusammen übernehmen und so für die volle Entfaltung der immanenten Stärke sorgen. Anders die Bearbeitung: Nach den Klarinetten übernehmen schnell die Celli und die Hörner diesen ersten Gedanken und fächern den Klang in zahlreichen Schattierungen auf, so dass die Kraft des Themas vielschichtiger und somit interessanter wird.
Der zweite Satz ist ein sehr sanftes Intermezzo im 9/8-Takt, von Brahms mit »süß und ausdrucksstark« überschrieben. Auffällig sind die Sexten des Themas, das sich über eine Triolenbegleitung ausbreitet. Im Original besticht die Klarheit, in der Bearbeitung eher das Schönbergsche Spiel mit den verschiedenen Klangfarben im Orchester und mit der dynamischen Gestaltung. Es folgt ein Andante con moto samt einem recht energischen Mittelteil mit Marschcharakter. Doch auch die lyrischen Melodien des ersten Satzes tauchen hier wieder auf.

Im Finale schließlich hört man die Freude Schönbergs am Rhythmischen heraus. Brahms war seiner Leidenschaft für osteuropäische Traditionen nachgegangen und hatte diesem Rondo alla zingarese, wie der Name schon sagt, manche Tanzrhythmen der ungarischen Roma beigemengt – sowie volkstümliche Melodien und Tempovariationen. Schönberg setzt für dieses melancholische bis wilde Treiben effektvoll Xylophon, Glockenspiel, Schellen und Trommeln ein und sorgt so für ein mitunter humorig-aufgepeitschtes Ende dieser Quasi-Symphonie. Und auch seine Liebe zur Vorlage verbirgt er nicht: Als kleine Reminiszenz sind die Streicher auch solistisch zu erleben.

Johannes Brahms
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