Symphonie Nr. 4 e-Moll op. 98

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Seine vierte Symphonie schrieb Brahms in den Sommermonaten der Jahre 1884 und 1885, die er im südwestlich von Wien gelegenen steirischen Mürzzuschlag verbrachte. Seinem Freundeskreis verschwieg er zunächst die Arbeit an dem Opus und selbst Clara Schumann, die »viel von einer IV. Symphonie« hörte, verriet er – womöglich von seiner strengen Selbstkritik getrieben – nichts. Doch als das Werk im August 1885 vollendet war, gab er es in der ihm eigenen nonchalanten Art in einem Brief an den befreundeten Dirigenten Hans von Bülow bekannt: »Ein paar Entr’actes aber liegen da – was man so zusammen gewöhnlich eine Symphonie nennt. Unterwegs auf den Konzertfahrten mit den Meiningern habe ich mir oft mit Vergnügen ausgemalt, wie ich sie bei Euch hübsch und behaglich probierte, und das tue ich auch heute noch – wobei ich nebenbei denke, ob sie weiteres Publikum kriegen wird! Ich fürchte nämlich, sie schmeckt nach dem hiesigen Klima – die Kirschen werden nicht süß, die würdest Du nicht essen!«

Brahms hatte für die Uraufführung des Werks das von Hans von Bülow zu einem der führenden Klangkörper geformte Meininger Hoforchester auserkoren. Der Dirigent notierte während der Einstudierungszeit seine Bewunderung: »Eben aus der Probe zurück. Nr. IV riesig, ganz eigenartig, ganz neu, eherne Individualität. Athmet beispiellose Energie von a bis z.« Und der junge Richard Strauß, zu diesem Zeitpunkt 2. Kapellmeister beim Meininger Hoforchester, urteilte ähnlich: »Seine neue Symphonie ist nun allerdings ein Riesenwerk, von einer Größe der Konzeption und Erfindung, Genialität in der Formbehandlung, Periodenbau, von eminenten Schwung und Kraft, neu und originell.« Am 25. Oktober 1885 stand Brahms bei der Uraufführung im Hoftheater in Meiningen selbst am Pult – zum ersten und einzigen Mal bei einer seiner Symphonien. Anschließend ging das Meininger Hoforchester auf Tournee durch Deutschland und Holland, und stets dirigierte Brahms seine Vierte, während von Bülow bei den anderen Programmpunkten den Stab führte.

Überall mischte sich in den Reaktionen respektvolle Hochachtung mit Verwunderung über den hohen Anspruch der »complicierten« Symphonie, wie ein Kölner Rezensent schrieb: »Brahms hat es in der That dem Orchester nicht leicht gemacht, denn noch kaum sind uns in einem Werke solch rhythmische Pickanterien und Grübeleien vorgekommen, wie in diesem. [...] Wie in seinen großen Werken überhaupt, liegt indes auch im Wesen dieser bedeutungsvollen Novität eine gewisse Unnahebarkeit; nicht leicht und nicht auf dem ersten Blick erschließen sich uns ihre Schönheiten«.

Während sich die damalige Kritik an archaischen Elementen in der Musik rieb und in dem Opus vor allem Brahms’ norddeutsche Schwermut zu erkennen glaubte, gerieten in der Rezeption des 20. Jahrhunderts vor allem die konstruktiven Momente in den Blickpunkt. So bewunderte der Musikwissenschaftler Viktor Urbanotschitsch »die knappste Formgebung, größtmögliche Ökonomie im Gebrauch der Ausdrucksmittel, äußerste formelle Abschließung und Abrundung bis zur epigrammatischen Schärfe«. Und Arnold Schönberg erkor Brahms feingliedrige, entwickelnde Kompositionsweise zu seiner eigenen ästhetischen Maxime.

Zwei zentrale Entwicklungsmomente bestimmen den Verlauf des in der Sonatenform stehenden »Allegro non troppo«: Zum einen durchziehen figurative, harmonische, satztechnische, rhythmische und Intervall-Variationen des – wie ein damaliger Rezensent schrieb – von »Wehmut und Grazie erfüllten« Hauptthemas den Satz. Der markante Terzfall findet sich zudem in der gesamten Symphonie und stiftet so zyklischen Zusammenhalt. Zum anderen wird das Hauptmotiv des lyrischen Seitengedankens verarbeitet und fortgesponnen, wobei es immer wieder an markanten Stellen erscheint.

Im »Andante moderato« erklingt auf das von den Hörnern, Fagotten, Oboen und Flöten unisono vorgetragene Hauptthema eine »gesangreiche«, warme und von den Violinen umspielte Violoncellokantilene. Der langsame Satz lebt von dieser kontrastvollen Klangfarbendramaturgie zwischen Bläsern und Streichern. Brahms greift zudem auf archaisch anmutende Elemente wie kirchentonale, insbesondere phrygische Wendungen zurück, die dem Ganzen eine schwebende Stimmung verleihen.

An der traditionell dafür vorgesehenen dritten Stelle steht ein lärmendes Scherzo (»Allegro giocoso«), das Tanz und Burleske in sich vereint: »Die Skala der Charaktere reicht vom buffonesk Lärmenden bis hin zum graziös Rokokohaften« – so der Musikwissenschaftler Christian Martin Schmidt –, wobei ersteres durch den Hauptgedanken, zweiteres durch das Seitenthema ausgedrückt wird. Der Komponist unterstützt diese Charaktere, indem er mit der Piccoloflöte und dem Kontrafagott Instrumente einsetzt, die am Rande des orchestralen Spektrums stehen und damit per se grotesk wirken. Zudem begleitet nahezu die gesamte Zeit über die Triangel mit ihrem grell-penetranten Ton das musikalische Geschehen – ein für Brahms‘ Verhältnisse sehr deutliches Gestaltungsmittel.

Sperrt sich der dritte Satz gegen eine genauere formale Einordnung, wie es seiner munteren Ausgelassenheit entspricht, so greift das finale »Allegro energico e passionato« auf eine strenge Reihungsweise zurück, die im 17. und 18. Jahrhundert als »Chaconne« oder »Passacaglia« bezeichnet wurde: Über eine ostinate, also ständig wiederholte Bassformel entspannt sich eine Variationenfolge von enormen Ausmaß. Das zugrunde liegende Thema stammt aus dem Schlusschor der Bach-Kantate BWV 150 »Nach dir, Herr, verlanget mich«, welche Brahms nur um eine chromatische Zwischenstufe bereichert.

Die insgesamt 30 Variationen krönen sein orchestrales Oeuvre im doppelten Sinne: Die letzten Abschnitte bauen durch die Terzenketten nicht nur eine Brücke zum eröffnenden Satz, sondern stellen mit ihrer konstruktiven Dichte einen Gipfelpunkt dar, der paradoxerweise durch den Rückgriff auf eine archaische Kompositionstechnik das Tor aufstoßen sollte zur Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg.

Brahms wrote his Fourth Symphony during the summer months of 1884 and 1885, which he spent in the Styrian town of Mürzzuschlag, south-west of Vienna. He initially kept his work on the new opus a secret from his friends and even told Clara Schumann, who had heard ‘much about a IV. Symphony’, absolutely nothing about it, a decision possibly motivated by his strict self-criticism. But when the piece was finished in August 1885, he announced to his friend, the conductor Hans von Bülow, in his uniquely nonchalant style, ‘there are a couple of entractes here – which when put together one would usually call a symphony. Travelling down to the concerts in Meiningen, I often took pleasure in picturing how we enjoyed trying them out together, and I still do that to this day – while wondering at the same time whether it will ever reach a wider audience! I’m concerned particularly that it smacks of the local climate – the cherries are not at all sweet, you wouldn’t eat them!’

For the Symphony’s première, Brahms selected the Meininger Hoforchester, which Hans von Bülow had moulded into one of the leading orchestras. During the preparations for the performance, the conductor expressed his admiration. ‘Just back from the rehearsal. No. IV is huge, completely unique, entirely new, brazen individuality. Breathes unprecedented energy from start to finish.’

The young Richard Strauss, at that time the 2nd Music Director of the Meininger Hoforchester, was of a similar opinion. ‘His new Symphony is without doubt a colossal piece, with greatness in its conception and crafting, genius in its treatment of forms, its metre; it exudes zest and power, and is new yet also original.’

Brahms himself took to the stand for the première in Meiningen’s Hoftheater – for the first and only time with one of his symphonies. The Meininger Hoforchester then set off on a tour of Germany and the Netherlands, with Brahms conducting his Fourth throughout and von Bülow taking the baton for the rest of the programme.

Everywhere the orchestra performed, the reaction was a mixture of respectful appreciation and amazement at the high demands of the complicated symphony, as one critic in Cologne wrote, ‘Brahms has in truth not made it easy for the orchestra, as hardly any of us have encountered such rhythmical piquancies and musings in a piece of music as we have in this one. Just as in his great works in general, there is in the nature of this meaningful novelty a certain aloofness; its beauty is not readily accessible at first glance.’

While this contemporary critic chafed at the archaic elements in the music and believed Brahms’ opus contained traces of his North German melancholia, the reception of the piece during the 20th century focussed instead on its constructive moments above all. The musicologist Viktor Urbanotschitsch marvelled at ‘the concise shaping, the greatest possible economy in the use of means of expression, the extremely formal conclusion and rounding off up to the succinct sharpness.’ Arnold Schönberg even chose Brahms’ delicate, evolving style of composition as one of his own aesthetic precepts. Two crucial moments define the progression of the Allegro non troppo in the sonata form. On the one hand, figurative, harmonious, technical, rhythmical and interval variations permeate through the – as one critic wrote at the time – ‘melancholy yet graceful’ main theme of the movement. The distinctive chain of thirds is also found throughout the symphony and endow a kind of cyclical cohesion. On the other hand, the main motif of the lyrical theme is worked and weaved through in such a way that it reappears at prominent moments in the piece. In the Andante moderato, a warm, song-like cantilena performed by the cello and violins is audible over the main theme played in unison by the horns, bassoons, oboes and flutes. The slow movement is given life by this contrasting interplay between the wind and string sections. Brahms moreover makes use of seemingly archaic elements such as Gregorian and in particular Phrygian phrases, which lend the whole movement a soaring atmosphere. The third movement, in its traditional position, is a raucous Scherzo (Allegro giocoso), which combines dance and burlesque. ‘The character of the piece ranges from buffoon-like raucousness through to rococo gracefulness’ according to musicologist Christian Martin Schmidt, whereby the former is expressed through the main themes, and the latter by the secondary theme. The composer supports these characters by using instruments such as the piccolo and contrabassoon, which are often on the margins of the orchestral spectrum and add to the piece’s uniqueness. With its shrill and penetrating sound, the triangle accompanies the performance almost throughout, which is one of Brahms’ most idiosyncratic composition tools.

It is difficult to attribute a specific formal classification to the third movement, but in accordance with its lively exuberance, the final Allegro energico e passionato falls back on a strict style of composition known during the 17th and 18th centuries as chaconne or passacaglia. A succession of variations of huge proportions unfolds in the form of an ostinato, in other words a repeated bass line. The underlying theme originates from the final chorus of Bach’s Cantata No. 150 ‘Nach dir, Herr, verlanget mich’, which Brahms enriches only by adding a chromatic intermediate level.

The 30 plus variations crown his orchestral oeuvre in two ways. The last sections not only provide a bridge back to the opening movement through the chain of thirds, but as a result of their intensity also represent a climax, which, paradoxically, by evoking an archaic style of composition would actually push open the door for the Second Viennese School and Arnold Schönberg.

 

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