Während Liszt also spielerisch frei, geradezu rauschhaft mit der Form der Symphonie umging, hielt Johannes Brahms seine strenge Selbstkritik lange Zeit davon ab, sich in der instrumentalen Königsdisziplin zu versuchen: »Wenn man es wagt, nach Beethoven Symphonien zu schreiben, so müssen sie ganz anders aussehen.« Im Sommer 1862 notierte die Freundin Clara Schumann: »Johannes schickte mir neulich – denken Sie welche Ueberraschung – einen 1. Symphoniesatz [...]. Der Satz ist voll wunderbarer Schönheiten.« Doch Brahms legte den Entwurf wieder beiseite. Erst 14 Jahre später vollendete er die c-Moll-Sinfonie. Nach der Uraufführung in Karlsruhe schlossen sich weitere, zum Teil von Brahms selbst dirigierte Aufführungen in Mannheim, München, Wien, Leipzig und Breslau an. Die Reaktionen waren enttäuscht bis enthusiastisch; von Beethovens (nie geschriebener) 10. Symphonie war die Rede. Und wieder Clara Schumann: »Die Symphonie [war] wunderbar großartig, ganz überwältigend!«
Hört man den Beginn, sind Brahms' Skrupel in der Tat schnell vergessen. Das ist gewichtig, ja beinahe schon mutwillig gewalttätig – auf jeden Fall ohne falsche Schüchternheit. Überhaupt die Tonart. C-Moll! Man kennt sie spätestens seit Beethovens 5. Symphonie als Schicksals-Tonart. Und wie Brahms dieses c-Moll in den ersten Takten verwendet, wie er gemessenen Schrittes samt Paukenvierteln die Akkorde im Forte aufschichtet, das zeugt schon von einiger Meisterschaft. Die chromatisch aufsteigende Linie der Oberstimmen mit der abschließend fallenden Sechszehntelgruppe erscheint gleichsam als Motto immer wieder an Schlüsselstellen. Das energische Hauptthema im folgenden Allegro-Teil ist von Terz- und Sextsprüngen geprägt. Brahms arbeitet hier nicht mit Kontrasten, sondern spinnt das Material nach dem »Prinzip der entwickelnden Variation« (Arnold Schönberg) fort.
Die beiden Mittelsätze dieser Symphonie bestechen durch ihren kammermusikalischsublimen Orchesterklang. In dem spannungsgeladenen Andante sostenuto im 3/4-Takt mit seiner ruhigen, innigen, vom Streichermelos geprägten Einleitung verweist das Oboen-Thema bereits auf den Hauptgedanken des dritten Satzes. Auffallend ist die Ausdifferenzierung des Orchesters: Neben der Oboe treten auch die Klarinette, das Horn und die Violine solistisch in Erscheinung. Der dritte Satz in As-Dur schlägt einen idylisch-heiteren Ton an, um, wieder in Clara Schumanns Worten, »dem Geist etwas Ruhe« zu gönnen. Die kontinuierlich pulsierende Achtelbewegung und der Wechsel zwischen Streichern und Bläsern verleihen dem Ganzen scherzohafte Züge. Die Klarinette spielt eine weiche, kunstvoll gebaute Melodie.
Das Finale schließlich ist in Brahms' Schaffen singulär. Der erste Abschnitt der langsamen Einleitung greift mit c-Moll die Tonart des eröffnenden Satzes auf. Der suchende Gestus der ersten Takte mündet in dem verheißungsvollen C-Dur-Licht des zweiten Teils. Sodann ertönt die berühmte Alphorn-Melodie, die Brahms Clara Schumann 1868 als Geburtstagsgruß auf einer Postkarte aus der Schweiz zusandte (»Hoch auf’m Berg, tief im Tal grüß ich dich viel tausendmal!«). Es folgt ein Bach-ähnlicher Choral im Blech, bis dann endlich das beinahe beschwingte Thema im reinen C-Dur erklingt, das das NDR-Fernsehen als Erkennungsmelodie für das »Hamburg Journal« wählte. Dieser Symphonieschluss hat etwas Versöhnliches: Brahms verbindet die Sphären von Natur, Lebensfreude und Religion miteinander. Womit wir wieder bei Dvořák wären. Liebe, Natur und Geist – das wäre doch was fürs neue Jahr.
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