Peter I. Tschaikowsky Berechenbarkeit zu attestieren (siehe oben), ist eigentlich ziemlich ungerecht. Beispielsweise seine Symphonien bestechen ja durch einen unerhört großen melodischen Einfallsreichtum. Und doch überrascht uns sein Gesamtwerk seltener als das Bartóks oder Strawinskys. Tschaikowskys höchstes Ideal war bezeichnenderweise Mozart, also der Komponist, dessen Individualstil so geheimnisvoll-homogen und wiedererkennbar ist wie das kaum eines anderen Komponisten. Beim späten Beethoven hörte Tschaikowsky hingegen nur Chaos und Nebel, Brahms empfand er als kalt und reizlos, selbst Wagner langweilte ihn.
Einer von Tschaikowskys Erfolgen ist, die russische Musik zu Weltgeltung erhoben zu haben. Und ein anderer, uns überaus leidenschaftliche Musik mit zum Teil Mozartscher Finesse hinterlassen zu haben. Nach seiner eigenen Aussage habe er sich immer bemüht, »in meiner Musik die ganze Qual und Ekstase der Liebe auszudrücken«: Vielleicht ist es die Mischung aus russischem (sein Vater) und französischem Blut (seine Mutter), die ihm Empfindsamkeit und Leidenschaft mitgegeben hat. Und als seine vierte Symphonie entstand, trug sich gerade die größte Tragödie seines Lebens zu: 1877 heiratete er, verließ seine Frau allerdings gleich wieder, erlitt einen Nervenzusammenbruch und versuchte, sich das Leben zu nehmen. Man kommt kaum daran vorbei, diesen biografischen Hintergrund als Blaupause für das Werk heranzuziehen.
In einem seiner unzähligen Briefe erläuterte Tschaikowsky das Programm seiner Vierten: Schon die Einleitung des ersten Satzes ist eine Art inhaltliche Keimzelle. In diesen ersten Takten erleben wir die »Schicksalsgewalt« – das um einen Ton kreisende Hauptthema mit seinen kräftigen Triolen und Achteln. Dieses »Fatum«, so Tschaikowsky, kontrolliere uns beständig, so dass Glück und Friede niemals vollkommen würden. »Man muss sich ihm unterwerfen und seine Zuflucht in vergeblichen Sehnsüchten suchen.« Auch wenn man sich – wie im weiteren Verlauf dieses ersten Satzes – in seligen Träumen einrichtet, holt einen das Schicksal wieder ein.
Im Andantino kommen wir etwas zur Ruhe. »Ein Schwarm von Erinnerungen taucht auf«, so Tschaikowsky. »Und Sie sind traurig, weil so vieles schon hinter Ihnen liegt.«
Der dritte Satz ist mit wilden Pizzicato-Läufen der Streicher und Flöten-Miniaturen einer der markantesten in Tschaikowskys symphonischem Schaffen; eine »launige Arabeske«, so der Komponist. Es erklingen Gassenhauer und eine Militärparade. Eine Verschnaufpause in dem Reigen der Emotionen also: Es sei, als trinke man ein Glas Wein.
»Wenn Sie in sich selbst keinen Anlass zur Glückseligkeit finden, blicken Sie auf andere«, fordert uns Tschaikowsky schließlich mit Blick auf den vierten Satz auf.
Das Leben sei letztlich »doch zu ertragen« – sofern wir uns einer »Volksbelustigung an einem Feiertag« zuwenden.
21.06.2020 - *** ABGESAGT *** Drehfenster: Prokofjew und Tschaikowsky
Andris Poga Dirigent
Andrei Ioniţă Violoncello
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