Was hat es auf sich mit diesen Alterswerken – von denen doch zum Zeitpunkt der Entstehung noch niemand genau sagen konnte, dass sie tatsächlich die »letzten« sein sollten? Gerieten sie zu musikalischen Vermächtnissen, weil die Komponisten ihr Lebensende ahnten? Oder verhielt es sich umgekehrt: Kam danach nichts Großes mehr, weil mit diesen Werken nun alles gesagt war?
Im Falle von Richard Strauss‘ »Vier letzten Liedern«, seinem letzten Orchesterwerk, dessen Abschluss-Charakter schon im (posthum vom Verleger Ernst Roth ersonnenen) Titel Ausdruck findet, ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Tod jedenfalls evident. Und obwohl dieses in nahezu sämtliche seiner Tondichtungen Eingang gefunden hatte, zitiert er im letzten dieser letzten Lieder ausdrücklich die nahezu 60 (!) Jahre alte Komposition »Tod und Verklärung«, um als alter Mann noch einmal auf die Schopenhauersche Erlösung anzuspielen, die er damals in Töne gesetzt hatte.
Die Reihenfolge der vier Lieder, die übrigens auch von Roth stammt, ist dramaturgisch klug und nutzt die üblichen Konnotationen der Jahreszeiten, die auch für die lyrischen Vorlagen aus der Feder Hermann Hesses zutreffen: Der Frühling steht für die Geburt bzw. die Entstehung des Lebens, der Sommer für die Lebensfülle, der Herbst für das Alter und der Winter beziehungsweise die Nacht für den Tod. Wenn im ersten Lied »Frühling« zunächst vom Sehnen und schließlich von einer Art rauschhaftem Erleben des Lichts die Rede ist, drängt alles zum Leben: »Es zittert durch all meine Glieder deine selige Gegenwart.« Drei kleine Motive und deren unermüdliche Veränderungen und Weiterentwicklungen wählte Strauss zur Vertonung der hochpoetischen Hesse-Verse. Die Musik wandert gewissermaßen als unendliche Melodie weiter, alles fließt und findet über manche harmonische Verwicklung erst am Schluss in A-Dur etwas Ruhe.
Im »September« erfahren wir im Rückblick von der Fülle des Sommers: von Blumen, vom Akazienbaum, von Rosen und vom Gartentraum. Nun dominieren aber bereits die gleichsam ins Dunkle, in die Tiefe gerichteten Wörter: sinken, schauern, tropfen, still, matt, müde ... Hier erweist sich Strauss wieder einmal als Meister der Polyphonie, indem er parallel drei Motive präsentiert, die miteinander spielen und sich weiterentwickeln; stehen sie zunächst für den Sommer, drücken sie im weiteren Verlauf dessen Vergehen aus. Zudem wechselt die Instrumentation passenderweise von hohen Streicher- zu tieferen Bläserklängen.
»Alle meine Sinne nun wollen sich in Schlummer senken«, heißt es in dem dritten Hesse-Gedicht »Beim Schlafengehn«. Hier haben wir es bereits mit einer erlösenden Überwindung zu tun. Denn der Tod hat seinen Schrecken endgültig verloren; die Seele kann nun »in freien Flügeln schweben« und »tausendfach leben«. Die Solovioline steht wohl für ebendiese Seele, sie schwebt mit einer nicht enden wollenden Melodie über dem Klangteppich des Orchesters.
Der Zyklus endet mit dem Gedicht eines anderen Lyrikers: mit »Im Abendrot« von Joseph von Eichendorff. Wie bereits in den beiden letzten Hesse-Gedichten haben wir es mit einem eher unspektakulären ABAB-Reimschema zu tun, und die Worte gleiten gleichsam wie die beschriebenen Wanderer über die Welt. Ist es der vielgerühmte Strauss-Humor, wenn wir die im Text erwähnte Lerche als hellen Triller hören? Zu der Schlusszeile »Ist dies etwa der Tod?« hören wir jedenfalls sehr friedvoll das bereits erwähnte Verklärungs-Thema, und sehr sanft klingt dieses Werk – das für Kritiker aufgrund seines spätromantischen Charakters quasi ein halbes Jahrhundert zu spät geschrieben wurde, für Fans aber zeitlos gültig ist – im tiefen Es-Dur aus. Es ist das versöhnliche Ende eines gewaltigen Lebenswerks, dessen Komponist in der Rückschau durch seine vorübergehende Rolle als Präsident der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer Mitte der 1930er-Jahre allerdings keineswegs unumstritten ist ...
Frühling (Hermann Hesse)
In dämmrigen Grüften
träumte ich lang
von deinen Bäumen und blauen Lüften,
von deinem Duft und Vogelsang.
Nun liegst du erschlossen
in Gleiß und Zier,
von Licht übergossen
wie ein Wunder vor mir.
Du kennest mich wieder,
du lockest mich zart,
es zittert durch all meine Glieder
deine selige Gegenwart!
September (Hermann Hesse)
Der Garten trauert,
kühl sinkt in die Blumen der Regen.
Der Sommer schauert
still seinem Ende entgegen.
Golden tropft Blatt um Blatt
nieder vom hohen Akazienbaum.
Sommer lächelt erstaunt und matt
in den sterbenden Gartentraum.
Lange noch bei den Rosen
bleibt er stehen, sehnt sich nach Ruh.
Langsam tut er die großen
müdgewordnen Augen zu.
Beim Schlafengehen (Hermann Hesse)
Nun der Tag mich müd gemacht,
soll mein sehnliches Verlangen
freundlich die gestirnte Nacht
wie ein müdes Kind empfangen.
Hände, lasst von allem Tun,
Stirn, vergiss du alles Denken,
alle meine Sinne nun
wollen sich in Schlummer senken.
Und die Seele unbewacht
will in freien Flügen schweben,
um im Zauberkreis der Nacht
tief und tausendfach zu leben.
Im Abendrot (Joseph von Eichendorff)
Wir sind durch Not und Freude
gegangen Hand in Hand;
vom Wandern ruhen wir [beide]
nun überm stillen Land.
Rings sich die Täler neigen,
es dunkelt schon die Luft.
Zwei Lerchen nur noch steigen
nachträumend in den Duft.
Tritt her und lass sie schwirren,
bald ist es Schlafenszeit.
Dass wir uns nicht verirren
in dieser Einsamkeit.
O weiter, stiller Friede!
So tief im Abendrot.
Wie sind wir wandermüde –
Ist dies etwa der Tod?
09.10.2022 - Hoffnung
Jacek Kaspszyk, Sarah Wegener – Werke von R. Strauss und Brahms