Dr. Alexander Meier-Dörzenbach
Unser begrenztes Leben ist eigentlich nie still, sondern vielmehr laut und bewegt – ganz besonders in der und durch die Musik. Das hat sich real im März 2020, während diese Zeilen entstehen, geändert: Konzerte wurden abgesagt, Kollektives ist geschrumpft, Grenzen wurden dichtgemacht – sowohl nationale als auch soziale, bis hin zu familiären. Dass unsere neue Saison »grenzenlos« heißt und von Stillleben und Stillbildern visuell begleitet wird, ist aber nicht etwa eine spontane Reaktion auf die Entwicklungen der letzten Wochen, sondern eine viel frühere Entscheidung, die die Unbegrenztheit der sich individuell aufgebenden Person in der Kunst bezeichnet: »Weltseele, komm, uns zu durchdringen!«, heißt es bei Goethe. Ein Leben mit und in der Kunst ist grenzenlos, kann Raum und Zeit überwinden, und selbst in der real verordneten Stille klingt Musik – dem geistigen Ohr in unserer Erinnerung und in unserer Zukunft. So wie das geistige Auge durch Stillleben in der Malerei in laute Bewegung gebracht werden kann.
Die ausgesuchten Bildwerke laden Sie erneut dazu ein, über bildnerische Assoziationen mit Aspekten der Konzertprogramme in Kommunikation zu treten. Bilder bleiben immer still, zumindest ruhig und bewegungslos, auch jenseits der thematisch ausgesuchten Stillleben – aber sie können durch Betrachtung aktiviert werden und somit bewegen, vor und nach dem Konzert.
Mit dem 250. Geburtstag von Beethoven rückt das Jahr 2020 einen gerade für Musikerinnen und Musiker tragischen Aspekt von Stille in den Vordergrund. Im Alter von nur 31 Jahren schildert Beethoven 1801 seinen Zustand in einem Brief: »Der neidische Dämon hat meiner Gesundheit einen schlimmen Streich gespielt, nämlich mein Gehör ist seit drei Jahren immer schwächer geworden ... nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort ... Ich bringe mein Leben elend zu. Seit zwei Jahren meide ich alle Gesellschaften, weil’s mir nicht möglich ist, den Leuten zu sagen, ich bin taub.« Es ist keine Stille, die den immer schwerhöriger werdenden Beethoven umfängt, sondern zunächst ein entsetzlicher Tinnitus, dem auch mit schmerzhaften Prozeduren nicht beizukommen ist. Es gibt verschiedene Theorien zur Ursache von Beethovens Krankheit, doch bleibt es jenseits medizinischer Spekulationen bemerkenswert, dass die Taubheit sein musikalisches Genie kaum, seine Teilhabe am sozialen Leben jedoch durchaus negativ beeinflusst hat. Dank seines absoluten Gehörs konnte sich Beethoven trotz schließlich kompletten Hörverlustes Klangzusammenhänge vorstellen und weiterhin komponieren, unter anderem auch die Missa solemnis, die er selbst für sein bedeutendstes Werk hielt und mit der Widmungsinschrift »Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehen« versah. Die Messe wurde zwischen 1819 und 1823 geschrieben; die Uraufführung fand jedoch nicht in einem sakralen Rahmen, sondern 1824 in St. Petersburg bei der Philharmonischen Gesellschaft statt. In Wien wurden als »Hymnen« umbenannte Auszüge zusammen mit der Uraufführung der neunten Symphonie im Kärntnertortheater im gleichen Jahr zu Gehör gebracht; erst allmählich fand die anspruchsvolle Messe den Weg in den liturgischen Rahmen und wird nun die neue Saison »grenzenlos« mit dem Konzerttitel »Jenseits der Stille« eröffnen. (Beethovens Missa solemnis am 20.09.)
Das Stillleben bezeichnet in der europäischen Malerei die kunstvoll arrangierte Darstellung regloser Gegenstände wie Blumen und Instrumente, Vasen und Masken, Obst und Muscheln. Doch durch die Rezeption der stillen Objekte kann das sehende Subjekt selbst laut und rege werden und beispielsweise das kunstvolle Arrangement von Totenschädel, Seifenblasen, erloschener Kerze und ungespieltem Musikinstrument als stummen Schrei der eigenen Vergänglichkeit wahrnehmen. Stillleben können also sehr beredt sein und werden seit Anfang des 17. Jahrhunderts als eigene Gattung gesehen, auch wenn es schon vor dem Barock solche Bild-Lösungen gegeben hat. Man denke nur an die von Plinius überlieferte Geschichte der Trauben des Zeuxis, einem der berühmtesten Maler der griechischen Antike. Im Wettstreit mit Parrhasios gelang es Zeuxis, Trauben so realistisch zu malen, dass Vögel herbeieilten und versuchten, das Obst zu picken. Als Parrhasios ihm nun sein Bild präsentierte, versuchte Zeuxis, den Vorhang davor beiseite zu schieben – nur um erkennen zu müssen, dass dieser gemalt und er selbst also getäuscht und so übertroffen worden war.
Die berühmteste Bildervertonung, die wir kennen, setzt auf heute größtenteils verschollene Werke – die des russischen Malers und Architekten Viktor Hartmann, jedoch ist er dem Reich der grenzenlose Stille enthoben, da Modest Mussorgski seinem früh verstorbenen Freund mit dem Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung 1874 klangliche Präsenz verlieh. Angeregt vom einflussreichen Kunstkritiker Wladimir Stassow, wählte der Komponist spezifische Bildwerke aus der Gedächtnisausstellung für Hartmann und erweckte sie in flirrenden Klangfarben zu Leben. Er widmete dem Kritikerpapst Stassow nicht nur den Zyklus, sondern gewann ihn später auch als Librettisten für seine Oper Chowanschtschina. Das ungemein populäre Klavierwerk zur Bilderausstellung wurde über drei Dutzend Mal für Kammermusik und Soloinstrumente und über zwei Dutzend Mal für Orchester bearbeitet; die weltweit am meisten gespielte Version ist aber die Fassung, die Maurice Ravel 1922 mit subtilen Klangfarben und impressionistisch reichem Kolorit für großes Orchester erstellte. Doch auch Ravels eigene Kompositionen weisen in ihrer Farbbrillanz bei vorsichtigem Auflösen struktureller Grenzen eine neue Richtung aus: »Was nicht leicht von der Form abweicht, entbehrt des Anreizes für das Gefühl – daraus folgt, dass die Unregelmäßigkeit, das heißt das Unerwartete, Überraschende, Frappierende einen wesentlichen und charakteristischen Teil der Schönheit ausmacht.« So finden sich ebenso an Mozart erinnernde Klassizismen wie moderne Jazzklänge in Ravels in den USA uraufgeführtem Klavierkonzert in G-Dur. (Mussorgskis Bilder einer Ausstellung in der Ravel-Fassung am 17.01., Ravels Le Tombeau de Couperin, sein erstes Klavierkonzert und seine Rhapsodie espagnole am 07.02.)
Einem viel älteren Bildwerk huldigte in Salzburg 1956 der tschechische Komponist Bohuslav Martinů in der Uraufführung von Les Fresques de Piero della Francesca, mit denen der damals Mittsechziger seine Faszination für den zehnteiligen Freskenzyklus Legende vom Wahren Kreuz in Musik ausdrückte. Piero hatte ein halbes Jahrtausend zuvor die Kreuzholzlegende auf die Wände der Bettelordenskirche San Francesco in Arezzo gemalt – buchstäblich bei Adam und Eva angefangen, da laut dem apokryphen Nikodemus-Evangelium und der Legenda aurea der sterbende Adam seinen dritten Sohn Seth bat, ihm Öl des Erbarmens aus dem Paradies zu bringen. Der Erzengel verweigerte dieses; Seth bekam stattdessen einen Zweig vom Baum der Erkenntnis und legte ihn dem inzwischen verstorbenen Adam in den Mund – daraus erwuchs der Baum, aus dem schließlich das Holz für Christi Kreuz gezimmert wurde. Martinů illustriert aber nicht musikalisch die bunten Bildillustrationen zu wiederum illustrierenden Texten; er ist vielmehr an »der Art von feierlicher, gefrorener Stille und opak vielfarbiger Atmosphäre« interessiert. Der erste Satz seiner musikalischen Fresken ist vom Bild der knienden Königin von Saba inspiriert, der zweite vom Siegestraum Konstantins, während der dritte – abermals in Martinůs Worten – »eine Art Gesamtansicht der Fresken [ist], die auf die vielen faszinierenden Details aufmerksam macht«. (Martinůs Piero-Fresken am 30.05.)
Die musikalische Illustration von zeitgenössischen Bildern bei Mussorgski enthebt diese ebenso der Stille wie es Martinůs klingender Hommage an die 500 Jahre alten Fresken gelingt; beide Kompositionen rekurrieren aber nicht auf Stillleben. Diese erhalten allerdings durch einen spezifischen Aspekt einen assoziationsreichen Umfang. Mit »Stille« bezeichnet man eine Laut- und Bewegungslosigkeit. Schon von klein auf sind wir mit der positiven Konnotation der Stille vertraut – ist doch das Füttern von Säuglingen an der Mutterbrust als »Stillen« von der Stille abgeleitet, da das Baby beim Trinken geräusch- und bewegungstechnisch ruhig wird. Die »grenzenlose Stille« hingegen fasst in ihrer Absolutheit euphemistisch den Zustand des Todes, denn selbst in speziell konstruierten, schalltoten Kammern herrscht keine Stille – der Mensch hört etwas: den eigenen Blutkreislauf sowie sein schlagendes Herz. Der Mensch ist ebenso durch seine körperlichen Grenzen wie durch seine grenzenlose Fantasie definiert.
Aber gerade weil die Stille in der Musik nicht grenzenlos, sondern klar umrissen ist, wird sie zu einem zentralen Gestaltungsmoment und kann metaphorisch geweitet ebenfalls als nahrhafte Stärkung verstanden werden. Im Konzert ist Stille eben weit mehr als die Abwesenheit von Geräuschen – sie rahmt ein künstlerisches Erleben. Als letzte Saison Maestro Cambreling vor der Präsentation von Kurtágs Messages das Publikum des sechsten Symphoniekonzertes explizit darauf hinwies, dass die Stille zwischen den kurzen Stücken Teil der Kunst sei, war zu erleben, wie energetisch aktiviert diese stillen Momente wurden. Sie waren eben nicht »nichts«, sondern man konnte in ihnen das ThinkINg Orchestra denken hören und selbst mitdenken. Dabei ist Denken ein stiller Vorgang, bei dem wir oft nur das Endprodukt sehen und selten den Prozess hören. Musik kommt immer aus der Stille, und in die Stille wird sie wieder zurückgeführt. Die Kunsterfahrung wird nicht eng ausschließlich durch das Hören von Klängen begrenzt – zumal jeder Ton selbst schon eine gewisse Grenzenlosigkeit besitzt, da seine Wahrnehmung durch Vorbereitung und Resonanz ausgefranst ist und somit eben auch in die Stille davor und danach strömt. Und nicht zu vergessen: die aufgeladene Stille mittendrin, denn geschriebene Pausen strukturieren ein Musikstück ebenso wie laut erschallende Notenwerte. Diese stillen Pausen kontrastieren nicht nur die Klänge davor und danach, sie können auch eine Erwartungsspannung setzen oder einer Phrase inhaltlich nachhallen; diese Pausen schwingen mehr in der Seele, als dass sie in den Ohren dröhnen. Nachdem in Beethovens Schauspielmusik zu Goethes Egmont schon die Ouvertüre das Todesurteil Egmonts durch den Quartsprung von C auf G forte als »Kopf ab!«-Motiv verkündet, folgt eine fermatierte Tutti-Achtelpause der Schock-Spannung. Hier ist das gesamte Orchester still und markiert einen Perspektivenwechsel vom Einzelverhängnis zum kollektiven Schicksal, da nach dieser Stille nun aus einem zarten Pianississimo das siegreiche Jubelmotiv der Freiheit bis zum strahlenden Fortissimo crescendiert. Die Totenstille des enthaupteten Egmont entfaltet so ihre lebhafte Wirkung in den triumphalen Freudenklängen des befreiten Volkes. Das stille Pausengelenk verbindet demgemäß das hörende Nachdenken der vergangenen, tödlichen Individualgeschichte mit der zu erlauschenden Utopie einer lebendigen Zukunft. Diese Still-Pause wird gleichsam zur mentalen Atemzäsur, in der die Abwesenheit von Klang Fragen stellt – sowohl in Bezug auf die historische Erzählung als auch auf eine grenzenlose Freiheit. (Beethovens Schauspielmusik zu Egmont am 22.11., Klavierkonzert Nr. 5 am 25.10., Tripelkonzert am 29.10., »Erzherzog-Trio« am 05.11., Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. und Symphonie Nr. 7 am 15.11., Symphonie Nr. 9 am 31.12. und 01.01., Symphonie Nr. 1 am 22.04., Quintett für Flöte und Streicher arr. nach der Violinsonate Nr. 4 am 06.06.)
Eine bewusst komponierte Stille kann unterschiedlichste Qualitäten haben: Anspannung oder Ruhe, Nachhall oder Transzendenz, Erwartung oder Irritation, Unbehagen oder Komik. Extrem wurde die komponierte Stille 1952 in der Neuen Musik, als John Cage mit seinem Werk 4‘33‘‘ den Pianisten David Tudor ein Stück in drei Sätzen mit der Anweisung tacet spielen ließ. Nur durch Öffnen und Schließen des Klavierdeckels wurde der Unterschied zwischen Satz und Pause evident; der Pianist brachte keine Klänge zu Gehör, sondern schwieg gemäß der Anweisung mit einer Stoppuhr in der Hand. Die Zeit von etwas über viereinhalb Minuten wurde vor der Uraufführung erwürfelt: Die einzelnen Sätze haben die Länge von 33‘‘, 2‘40‘‘ und 1‘20‘‘; das Werk kann allerdings mit beliebig vielen Instrumenten aufgeführt werden – es ist trotz Konkretisierungen in gewissem Sinne grenzenlos. Aber ist die zeitlich terminierte Stille noch (oder schon) Musik? Solange ein Hörsinn existiert, stellt sich im Konzert keine schweigende Stille ein, auch wenn die Komposition mit dreisätzigem tacet das zu implizieren scheint. Bei der Uraufführung war die Überraschung grenzenlos, als keine Töne im Flügel erzeugt wurden, doch wirklich still ist es bis heute bei keiner Aufführung dieses avantgardistischen Stückes. Ob nun das Bonbonrascheln der Nachbarin, die draußen vorbeijaulende Feuerwehrsirene, geflüsterte Kommentare, die surrende Klimaanlage im Saal, der aggressive Zwischenruf des ungeduldigen Gegenübers, das dumpfe Dröhnen eines vorbeifliegenden Flugzeugs, das eigene Füßescharren und vieles andere mehr – man wird auf jeden Fall etwas hören, aber der musikalische Interpret spielt nichts. Das führt nicht nur zu einer Intensivierung der eigenen Wahrnehmung, sondern erhebt auch die Geräusche der Umgebung zum Klang.
Aber ist dieser aleatorische Klang nun Musik, oder ist die kunstvoll grenzenlos begrenzte Stille eine andere Form performativer Kunst? Der Ernst dieses stillen Stückes ist im Kontext seiner Entstehungszeit zu sehen: Nach dem grausamen Lärm und den schreienden Bildern des Zweiten Weltkrieges wird künstlerisch die Stille gesucht – in der Musik ebenso wie zeitgleich als visuelles Analogon in den monochrom weißen Gemälden von Robert Rauschenberg. Im Konzert die hörbare Erfahrung abwesenden musikalischen Klanges, in der Galerie die Sicht auf monochrom unbunt helle Bilder der Leere – man erlebt Kunst jenseits etablierter Strukturen in einer Grenzenlosigkeit von Form und Farbe.
Ein halbes Jahrhundert zuvor finden sich bei dem Franzosen Alphonse Allais die beiden Künste humoristisch in Personalunion: Er komponierte 1897 einen Trauermarsch »pour les funéraillles d’un grand homme sourd« (für die Beerdigung eines großen Gehörlosen), der nur aus leeren Takten mit der Spielanweisung lento rigolando besteht und somit still bleibt und hatte bereits 1883 ein monochrom weißes Blatt mit dem Titel »Première communion de jeunes filles chlorotiques par un temps de neige« (Erstkommunion junger, bleichsüchtiger Mädchen im Schnee) publiziert. Das Spiel mit Rezeptionsgewohnheiten hat nun im ernsten wie im komischen Anfang Folgen: Was erlebe ich warum? Wie prägt meine Erwartungshaltung die Form? Was höre ich in der vermeintlichen Stille, was sehe ich in der vermeintlichen Leere? Wie begrenzt mich Sprache und wann entgrenzt Sprache die künstlerische Kommunikation mit bildendem Kunstwerk und im klingenden Konzert?
Dem entsetzlichen Lärm des Krieges wurde nicht nur mit Formen der vermeintlichen Stille und Leere begegnet, sondern auch mit einer vielfarbig oszillierenden Klangpracht eines Liebesbegriffes. Die Trois Petites Liturgies de la Présence Divine von Olivier Messiaen sind mitten während des Zweiten Weltkriegs vom Komponisten vertextet und vertont worden. Messiaen wurde in Verdun gefangen genommen und hat als erstes großes Werk nach seiner Freilassung 1941 die Trois Petites Liturgies de la Présence Divine komponiert. In ihnen wird in drei Sektionen eine himmlische Präsenz in uns, in Gott und in allen Dingen beschworen, doch trotz dieses verbalisierten Anspruchs münden die Beschränkungen von Sprache eben nicht in grenzenlose Stille: Laut Messiaen werden »diese unsagbaren Ideen nicht formuliert, sondern bleiben in der Ordnung einer schillernden Farbendarstellung«. Diese »schillernde Farbendarstellung« religiöser Themen wird durch Frauenstimmen, großes Schlagwerk, Klavier, Streichorchester und Ondes Martenot – ein frühes elektronisches Instrument ätherischer Couleur – irisierend hervorgerufen. Die Kritiken der Premiere teilten sich in Kreuzigung und Apotheose des Komponisten, der sein Interesse an Vogelsang, antiken Hindu-Rhythmen, Farb-Klang-Synästhesie, katholischem Glauben an Wunder und numerische Symbole künstlerisch ins aufregend Grenzenlose einer Zukunftsbedeutung zu verflechten wusste. (Olivier Messiaens Trois Petites Liturgies de la Présence Divine am 21.02., Et exspecto resurrectionem mortuorum und Un Sourire am 20.05.)
Perspektivisch rückwärtsgewandt sind die zeitgleich komponierten, klanglich ebenso opalisierenden Symphonischen Tänze von Sergei Rachmaninow. Sein finales, 1940 entstandenes Werk hielt der Tonsetzer nicht nur für seinen »letzten Funken«, sondern auch für seine beste Arbeit, die mit großem Instrumentenaufwand seinem eigenen Leben sonor nachspürt und ursprünglich als Fantastische Tänze firmierten. So präsentiert beispielsweise der erste, »Mittag« betitelte Satz ein Zitat aus Rachmaninows erfolgloser erster Symphonie; die »Abenddämmerung« des zweiten Satzes stockt im verfremdeten Walzertempo und lässt die vergangene Epoche vor dem Ersten Weltkrieg nachhallen, während die »Mitternacht« des dritten Satzes im Totentanz das von Rachmaninow auch in anderen Kompositionen verwendete gregorianische »Dies Irae« sowohl als fahle Erinnerung als auch als wild rasende Tarantella präsentiert, bis ein abschließendes »Halleluja« die Erlösungserwartung an das Grenzenlose triumphal zu Gehör führt. (Rachmaninows Symphonische Tänze am 10.01., Rhapsodie über ein Thema von Paganini am 11.04.)
Zwischen dem überreichen Klangkolorit Messiaens und Rachmaninows sowie der Stille von Cage lässt sich eine Besonderheit der tönenden Grenzenlosigkeit verorten, die ihren Farbreichtum mit mikrotonalen Mitteln evoziert: die Kompositionen von Giacinto Scelsi. Der dandyhafte Conte d’Ayala Valva hat in den Goldenen Zwanzigern ein aufregendes Leben zwischen Paris und London geführt und zählte Jean Cocteau, Salvador Dalí, Paul Éluard ebenso zu seinen Freunden wie Virginia Woolf und Teile des englischen Hochadels. Er bereiste Afrika sowie den fernen Osten, doch nach einer gescheiterten Ehe und einer schweren psychischen Krise unterbrach er seine Komponiertätigkeit, die er als Zwölftonmusiker begonnen hatte. Als Genesungsversuch schlug er immer wieder einen einzigen Ton am Klavier an und hörte diesen abklingend bis in die Stille hinein schwinden. Daraus entwickelte sich ein neues, minimalistisches Musik-Prinzip, das 1959 in seinem bekanntesten Werk gipfelt: Quattro Pezzi (su una nota sola) (Vier Stücke über eine einzige Note). Das Werk für 26 Musikerinnen und Musiker ist fern der sprachlich zu befürchtenden Monotonie; tatsächlich spüren die vier Stücke den Tönen F, B, As, A überraschend facettenreich mit unterschiedlichen Instrumenten und Registern in Rhythmen, Timbres und Dynamik bis in die Tiefe hinein nach.
Während in der letzten Saison die neue Reihe der Pro-Log-Konzerte Gelegenheit bot, Gérard Griseys Spektralmusik von Maestro Cambreling vermittelt und mit den anschließenden Symphoniekonzerten ein klassisches Repertoire neu interpretiert zu bekommen, wird der Chefdirigent in dieser Saison mit der moderierten Aufführung von Scelsis Kompositionen an drei Abenden mit jeweils bunt folgendem Symphoniekonzert eine besondere Rückbindung an den Avantgardisten aufzeigen, dem die Komponistengruppe L’Itinéraire um Grisey als Stammvater huldigen. Scelsi hatte die intuitive Improvisation als für sich adäquates Mittel entdeckt, um dem Komponisten per se vielmehr die Rolle eines Kunst-Mediums zuzuschreiben. Scelsi nahm seine Einfälle mit Klavier oder Ondioline – einem monophonen, auf Röhrentechnik basierenden Tasteninstrument – auf Tonbänder auf, ließ sie anschließend transkribieren und instrumentalisierte sie. Nach der gemeinsamen Tour durch die spektralfarbige Tonbreite versprechen diese Pro-Log-Konzerte, aufregende Entdeckungsreisen in die Tontiefe zu werden. (Scelsis Quattro Pezzi (su una nota sola) am 25.10., I presagi am 17.01., Pranam I & II am 18.04.)
Nebst in den komponierten Pausen innerhalb eines Musikstücks begegnen wir der Stille auch zwischen einzelnen Sätzen eines Werkes. Jedenfalls hat sich diese Gewohnheit im vergangenen Jahrhundert so etabliert. Dabei entspricht das überhaupt nicht der Rezeptionsgeschichte der klassischen Musik. Als Beethovens neunte Symphonie 1824 in Wien uraufgeführt wurde, gab es nach jedem Satz tosenden Beifall und enthusiastisches Winken mit Taschentüchern. Der taube Komponist wurde von den Solistinnen – der 18-jährigen Sopranistin Henriette Sontag und der Altistin Caroline Unger – umgedreht, sodass er den Jubel sehen, wenn auch nicht mehr hören konnte. Spontane Begeisterungsäußerungen zählten damals im Musikbetrieb zur Norm – schließlich waren die Stücke neu und noch nicht kanonisiert, und der bürgerliche Konzertbesuch entwickelte erst noch seine kulturell konventionelle Form.
Im Nachhall von Beethovens Neunter plante Franz Schubert noch im Sommer 1824, sich ebenfalls »den Weg zur großen Symphonie [zu] bahnen«, doch seine Große Symphonie in C-Dur, seine achte, wurde erst postum unter Felix Mendelssohn Bartholdy 1839 mit bedeutendem Erfolg uraufgeführt. Die Länge dieser Symphonie von rund einer Stunde hat Robert Schumann als »himmlisch« empfunden, »wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul, der auch niemals endigen kann und aus den besten Gründen zwar, um auch den Leser hinterher nachschaffen zu lassen«. Damit hat Schumann eine entgrenzende Stille versprachlicht und das »hinterher Nachschaffen« als Aufgabe dem Publikum überantwortet, wenn die Klänge längst verhallt sind. Das Konzerterlebnis endet nicht mit dem Wiedereintritt der Stille und dem dann folgenden Aufbrausen von Geräuschen der Alltagswelt, sondern erweist sich tatsächlich als grenzenlos nachwirkend. (Schuberts Achte am 25.10.)
Im Verlauf des späten 19. Jahrhunderts füllte eine andächtige Stille den Konzertsaal und ließ ihn damit der heiligen Klangkunst zur Kathedrale werden, oft sogar mit Orgeln geschmückt; so prangt der Prospekt des Walcker-Instrumentes auch stolz an der Stirnseite der Laeiszhalle. Bis vor wenigen Jahren war es zudem durchaus üblich, in einem dem Kirchenbesuch analogen Sonntagsstaat dem Konzert beizuwohnen: Es wurde zur Kultstätte der Klassik, zelebriert von den Hohepriestern der Kunst in einer Aura des weihevoll Besonderen. Applaus zwischen den Sätzen einer Symphonie oder eines Instrumentalkonzertes wäre Ausdruck brutalen Banausentums gewesen – dort habe doch Stille zu herrschen! Wir wissen alle, dass diese »Stille« in Wahrheit geräuschvoll aus Husten und Rascheln, Programmbuchblättern, Räuspern und Niederzischen des unerwarteten Applauses Einzelner besteht – bestenfalls also als Abwesenheit von Sprache klassifiziert werden kann.
Diese Attitüde hat sich in den letzten Jahren geändert; es ist nicht nur – wie gesellschaftlich überall – der Dresscode lockerer geworden, auch Applaus ist als ungehindert unmittelbare Reaktion auf ein sinnliches Erleben zwischen einzelnen Sätzen vermehrt wahrzunehmen, ob einem das nun behagt oder nicht. Wenn beispielsweise in Bruckners vierter Symphonie, der Romantischen, das Scherzo des dritten Satzes – eine 1878 verfasste Neukomposition gegenüber der Urfassung von 1874 – verklungen ist, dann muss man sich regelrecht zurückhalten, um den jagdfröhlich ländlerhaften Hörner- und Trom- petenklängen nicht spontan mit Applaus zu begegnen. (Bruckners Vierte am 06.12.)
Auch Weinbergs virtuoses Trompetenkonzert verlangt gemäß Konzert-Etikette, dass nach dem ersten, »Études« genannten Satz Stille folge, dabei fühlte sich ein Spannungsabbau durch Applaus nach dem Allegro molto fraglos natürlich an. (Weinbergs Trompetenkonzert am 11.02.) Warum sollte man seiner Begeisterung eigentlich nicht ungehindert freien Lauf lassen? Vielleicht gerade weil es so einfach wäre, die enthusiastische Spannung durch Applaus zu entladen, anstelle die Aufladung zunächst bei sich zu behalten und weiterzuverarbeiten. In einer schnelltaktigen Zeit, die wie die unsere bis vor kurzem durchgehend permanent laut und bewegt war, kann das längere Zurücknehmen des Selbsts in Stille eine angemessene, da inzwischen so besondere Form sein, die dann energetisch in die nächsten Sätze geführt wird und unser alltägliches Menschsein für einen Moment tatsächlich grenzenlos macht. Gerade am Ende eines größeren Werkes, das eine irdische Wirklichkeit zu entgrenzen scheint, kann erst einmal gemeinsame Stille auch nach seinem Abschluss ein sinnlich sinnvolles Nachspüren des musikalisch Erlebten sein. Mahlers 1901 uraufgeführte vierte Symphonie nutzt die kleinste Orchesterbesetzung all seiner Symphonien – es fehlen beispielsweise die sonst üblichen Posaunen und Tuba – und das ganze Werk dauert insgesamt nur so lang wie der erste Satz der Dritten allein. Auch wenn Mahler bereits 1892 »Das himmlische Leben« aus Des Knaben Wunderhorn für Klavier und Stimme vertonte, das Stück dann reich orchestrierte und mehrfach in Konzerten präsentierte, entschied sich der Komponist letztlich, es erst am Ende seiner vierten Symphonie zu verwenden – vom irdischen Leben hin zum himmlischen, von einer verworrenen Komplexität hin zur reinen Einfachheit, von der erwachsenen Erfahrung hin zur kindlichen Unschuld. Doch schon in den Eröffnungstakten des ersten Satzes wird mit den Schellen-, Flöten- und Klarinettentönen der changierende Glanz angedeutet, der uns klanglich im Himmel des letzten Satzes erwarten wird; eine enge Verbindung von Leben und Tod, die Mahler sehr wichtig ist: »Jeder der drei Sätze hängt aufs innigste und bedeutungsvollste mit dem letzten zusammen.« Der zweite Satz frappiert mit einem Violinsolo, bei dem sich Mahler der Skordatur bedient, das heißt, die Violine wird um einen Ton höher gestimmt, dadurch soll die »Geige schreiend und roh klingen, wie wenn der Tod aufspielt« – der fiedelnde Freund Hein, der mit unheimlich harschem Klang durch die Straßen zieht und den idyllischen Klängen von Ländler und Walzer das verzerrt Unheimliche eines Totentanzes beimischt. Im Adagio des dritten Satzes präsentiert Mahler dann »eine göttlich heitere und tief traurige Melodie ... dass ihr dabei nur lachen und weinen werdet«, bevor die grenzenlose Stille des Himmels klangliche Gestalt und damit menschliche Unzulänglichkeit annimmt. Die bereits erwähnten Schellen, die den ersten Satz eröffnet haben, klingen hier nun motivisch mehrfach mit Staccati in gestopften Trompeten und Streichern col legno (das heißt, die Saiten werden nicht mit den Haaren des Bogens gestrichen, sondern mit seinem Holz geschlagen). Sind das nun himmlische Glöckchen oder Schellen einer Narrenkappe? Wird die christliche Opferung zur schelmischen Umkehrung oder zum zentralen Bild klingender Mystik? Das Finale der vierten Symphonie verebbt in immer leiser und langsamer werdenden Klängen. Es ist kein triumphaler Jubel zu hören, keine leuchtende Gewissheit – die letzte Strophe beginnt mit den Zeilen »Kein’ Musik ist ja nicht auf Erden, / die uns’rer verglichen kann werden«. Unsere Welt wird in ironischer Brechung des jenseitig grenzenlosen Himmels betrachtet – nicht in bitter lautem Zynismus, sondern hinein in eine lebende Stille. (Mahlers Vierte am 18.04., Lieder aus Des Knaben Wunderhorn am 22.11.)
Eine besonders tragische Dimension dieser Stille wird in den wenigen Wochen des Jahres 1877 offenbar, als Peter Tschaikowsky sich entschließt, »in den Stand der Ehe zu treten, mit wem es auch sei«, um seinem gesellschaftlich konditionierten, psychischen Schweigedruck als Homosexueller zu entkommen. Er heiratet völlig überstürzt die Musikstudentin Antonina Miliukova, um »seine Seele von dem moralischen Leiden, welches ihn die letzten Jahre hindurch so gequält hat, zu retten« – wie sein ebenfalls homosexueller Bruder Modest erkennt. Wenige Tage nach der Eheschließung schreibt der Komponist seinem Bruder Anatoly, dass ihm seine Frau »in physischer Hinsicht absolut widerlich« geworden sei. Kurz darauf zieht er Bilanz: »Die Antipathie verwandelt sich nach und nach in einen solchen gewaltigen, grimmigen Hass, den ich noch nie empfunden und von mir nicht erwartet hatte.« Tschaikowsky sieht nur in der finalen Stilllegung, seinem Tod, den einzigen Ausweg und stellt sich in einer frostigen Herbstnacht in das eiskalte Wasser der Moskwa, um sich eine tödliche Lungenentzündung zu holen, damit sein Ableben nicht als skandalöser Selbstmord seiner Familie Schmerz und Scham zufügen kann. Doch er überlebt und erleidet einen schweren Nervenzusammenbruch mit Paranoia, von dem er sich durch Ruhe, Reisen und viel Arbeit langsam wieder erholt. Tschaikowsky komponiert nun seine vierte Symphonie und beginnt eine intensive, in über 1200 Briefen dokumentierte Freundschaft mit der älteren Mäzenin Nadezhda von Meck, die ihn 13 Jahre lang großzügig mit Honoraren und Pension unterstützt. Die beiden haben sich nie getroffen, doch jenseits physischer Realität findet eine offene Begegnung statt. So wird die Widmung der Vierten »à mon meilleur ami« als genderverzogene Verbeugung vor Frau von Meck verstanden. Das brutale Schicksal erhält im ersten Satz der Symphonie durch Bläserfanfare Gestalt und wird durch ein walzerseliges Glück kontrastiert – in Tschaikowskys Worten »der Kern der ganzen Symphonie, ohne Zweifel ihr Hauptgedanke« – und von ihm selbst als klingende Reflexion von Beethovens Fünfter verstanden. Der Komponist befreit sich aus einer strikten Sonatenhauptsatzform, wie er Frau von Meck schreibt: »Zum Beispiel ist in unserer Symphonie der erste Satz mit sehr deutlichen Abweichungen davon geschrieben«; hier strömt in musikalischem Fluss eine neue Freiheit, die die gequälte Seele Tschaikowskys leider nie jenseits von Musik ins Grenzenlose geführt hat. (Tschaikowskys vierte Symphonie am 11.02., Schwanensee-Suite am 29.10.)
In schöpferischer Grenzenlosigkeit vermag Musik auch Raum und Zeit zu transzendieren, da sie die alltäglich gesetzten lokalen, temporalen und politischen Grenzen und Beschränkungen überwindet. So wird die Musik des vor über 250 Jahren gestorbenen Franzosen Jean-Philippe Rameau (Dardanus-Suite am 20.05.) ebenso wie die unserer Zeitgenossen, des Belgiers Philippe Boesmans (Trakl-Lieder am 18.04. – ein Werk, das Sylvain Cambreling vor über dreißig Jahren uraufführte) und des Deutschen Wolfgang Rihm (Ernster Gesang mit Lied am 22.11. – ein Werk, dessen Weltpremiere vor über zwanzig Jahren mit den Symphonikern Hamburg in der Laeiszhalle stattfand) erklingen. Grenzen von einst haben sich aufgelöst: Im Concert Românesc verarbeitete der damals 28-jährige György Ligeti seine Studien am Bukarester Folklore-Institut. Im vierten Satz führt der Komponist auch dissonante Klänge in wilde Tanzrhythmen durch zwei gleichzeitig präsente, verschiedene Tonarten, doch diese harmonisch damals ungewöhnlichen Passagen riefen die ungarische Zensur auf den Plan, die die Proben abbrach und eine Präsentation des Konzertes 1951 verhinderte. Das Werk konnte erst 20 Jahre später uraufgeführt werden. (Ligetis Concert Românesc am 17.01.)
Klanglich lokale Grenzen hat Camille Saint-Saëns mit seinem letzten Klavierkonzert überschritten, das 1896 uraufgeführt wurde. Der extrem reisefreudige Komponist verfasste sein »Ägyptisches Konzert« in Luxor, doch benennt er selbst noch weiter reichende Eindrücke, die er besonders im zweiten, rhapsodisch exotischen Satz verklangbildlicht hat: »Eine Art Orientreise, die in der Episode in Fis-Dur sogar bis zum Fernen Osten vordringt. Die Passage in G-Dur ist ein nubisches Liebeslied, das ich von Schiffern auf dem Nil singen gehört habe, als ich auf einer Dahabieh den Strom hinuntersegelte.« Bis hin ins pentatonisch tönende Asien führt uns die musikalisch virtuose Kreuzfahrt. (Saint-Saëns’ fünftes Klavierkonzert am 06.12., Der Karneval der Tiere am 21.09.)
»Grenzenlos« sind allerdings auch die stillen Verbindungen einzelner Werke untereinander: Bohuslav Martinů ruft in seinem großorchestrierten Mahnmal für Lidice Beethovens fünfte Symphonie herbei (Martinůs Mahnmal am 30.05.); und in der Einleitung des Scherzos von seiner bereits erwähnten vierten Symphonie zitiert Bruckner den Anfang der ersten Szene des zweiten Aufzugs von Wagners Tristan und Isolde. Gerade in diesem zweiten Aufzug entgrenzen klangliche Vorstellungen die Liebe; das Duett »O sink’ hernieder, Nacht der Liebe« präsentiert die Töne des chromatischen Tristanakkords auf den Text. Wagners Anspruch, »die neue Form der dramatischen Musik [muss], um wiederum als Musik ein Kunstwerk zu bilden, die Einheit des Symphoniesatzes aufweisen«, wird besonders in diesem Aufzug erlebbar. Die 1865 nach vielen Schwierigkeiten und Verschiebungen in München sehr erfolgreich uraufgeführte Oper brachte durch neue Harmonien Ausführende und Zuhörende an ihre Grenzen. Drei Wochen nach der legendär umjubelten vierten Aufführung von Tristan und Isolde starb völlig überraschend der Sänger des Titelhelden, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, mit nur 29 Jahren; die Todesursache konnte nie geklärt werden. Die Isolde der Uraufführung, seine Gattin Malvina, verfiel in tiefe Depression und sollte nie wieder eine Bühne betreten. Der grenzenlosen Liebe in der Kunst wird die Stille des Lebensendes entgegengesetzt. (Zweiter Aufzug von Wagners Tristan und Isolde am 06.05., Meistersinger-Vorspiel am 01.04., Tristan-Vorspiel am 01.10.)
Die Text präsentierende Musikform wird diese Saison nicht nur im Opernaufzug einkehren, sondern vielgestaltig – und so sprachliche Wegweiser zur grenzenlosen Fantasie der Musikerfahrung aufstellen. Sogar die vertonten Texte selbst weisen unterschiedliche Grenzenlosigkeiten auf: Maurice Maeterlincks Drama Ariane et Barbe-Bleue erzählt vom Zusammentreffen der mythischen Ariadne und dem märchenhaften Frauenschänder Blaubart; Paul Dukas hat das symbolistische Schauspiel 1907 als »Conte musicale« gesetzt. (Dukas’ Vorspiel zu Ariane et Barbe-Bleue am 18.04.). In Verarbeitung von Molières Bürger als Edelmann würzt Richard Strauss seine Suite nicht nur mit Walzerklängen und Zitaten aus eigenen Werken wie Don Quixote und dem Rosenkavalier, sondern lässt sogar im Schlusssatz der komponierten Speisekarte humorvoll auch »Salmen vom Rhein« mit den musikalischen Wellen aus Wagners Rheingold servieren. (Strauss’ Suite Der Bürger als Edelmann am 22.04.)
Während Molières Komödie theatral jenseits von Strauss’ Bearbeitungen für Orchester und seiner Oper Ariadne auf Naxos überlebt, sind manche Stücke uns nur noch aufgrund ihrer musikalischen Bearbeitung in Erinnerung. Tobias Geblers heroisches Drama Thamos, König von Egypten war weder bei der Uraufführung 1774 noch später jemals ein Erfolg. Das dialektische Lehrstück um den ägyptischen Königsthron, den Oberpriester von Heliopolis und Sonnenjungfrauen verflicht zwar die damalige Ägyptenmode mit freimaurerischer Aufklärungssymbolik, doch schon sein Vertoner Wolfgang Amadeus Mozart wusste: »Es müsste nur bloß der Musik wegen aufgeführt werden.« So wurden die Chöre später dann mit liturgischen Texten unterlegt, während sich eine Aufführung der gesamten Schauspielmusik selten findet – dabei verdient die Musik, der Stille enthoben und dem verdienten Applaus zugeführt zu werden. (Mozarts Ouvertüre zu Die Zauberflöte am 29.10., Thamos am 21.02., Streichquartett d-Moll am 10.12., »Jupiter«-Symphonie am 25.12. und 20.05., Ouvertüre zu Don Giovanni am 11.04., Klarinettenquintett A-Dur am 02.05.)
In der Regel beendet der Applaus als unmittelbare Geräuschreaktion des Publikums das Konzert. Eine reflektierte Versprachlichung des Erlebten findet anschließend privatim statt, während im kollektiven Raum das Klatschen respektive seine bewusste Unterlassung seit der Antike eine Form der hörbaren Verarbeitung ist. In der griechischen Mythologie treffen wir auf Krotos, den Sohn des Gottes Pan mit Eupheme, dem weiblichen Geist des Lobes. Eupheme zog ihren Sohn zusammen mit den neun Musen auf, und auch wenn Krotos als erfolgreich reitender Jäger von Zeus im Sternbild Sagittarius (Schütze) verewigt wurde, ist für uns sein erstmaliges rhythmisches Klatschen zur Musik von Bedeutung, da er damit als Erfinder des Applauses gilt und Künstler ihm seither zahlreich Opfergaben brachten.
In der keimenden Moderne wird der Applaus wirtschaftlich organisiert und vertrieben: Ein gewisser Monsieur Sauton gründete 1820 in Paris die »Assurance des succès dramatiques«, eine Versicherung für Bühnenerfolge, die als Applausagentur unterschiedlichste Formen des Klatschens und positiver Reaktionen zu festgelegten Gebührensätzen vermittelte. So gab es nicht nur heftig applaudierende tapageurs (Aufsehen-Erreger) und bisseurs (Zugabe-Rufer), sondern unter anderem auch sich in Pausen lobend äußernde chatouilleurs (Kitzler) und in Komödien scheinbar spontan amüsierte rieurs (Lacher). Das Geschäft etablierte sich schnell und auch wenn es vor allem die nächsten einhundert Jahre blühen sollte, ist es bis heute nicht gänzlich verschwunden – gerade nicht aus italienischen Opernhäusern und russischen Ballettsälen.
In seinen Mémoires steigert Hector Berlioz mit ironischem Witz die Bedeutung des bezahlten Applauses bis hin zur pervertierten Umkehrung eines Kunst-Begriffes: »Die Meister der Claque verachten Amateure, die applaudieren, ohne das Geheimnis des richtigen Applauses zu verstehen. Das Publikum hat keine Ahnung von gutem Applaus. Die Claqueure sind wahre Fachleute geworden. Ihr Beruf hat sich zu einer wahren Kunst entwickelt!« Berlioz’ Symphonie fantastique, die 1830 ihre Premiere erlebte, ist auf besondere Weise metaphorisch mit Stille verbunden, da Berlioz das programmatische Werk schrieb, nachdem er sich während einer Aufführung von Hamlet in Harriet Smithson, die Ophelia-Darstellerin, verliebte. Seine vielen Liebesbriefe blieben unbeantwortet und der Komponist kanalisierte seine Gefühle nun in die Symphonie fantastique. Die wie ein klassisches Drama in fünf Abschnitte geteilte Programmmusik variiert die künstlerische idée fixe einer geliebten Frau als träumerisches Ideal und hexenhässlichen Albtraum – sie wurde von der Schauspielerin allerdings erst zwei Jahre später gehört. Als Hector und Harriet danach einander vorgestellt wurden, heirateten sie kurz darauf. Über die bittere und schließlich unglückliche Ehe und Trennung sei hier lieber stillgeschwiegen ... (Berlioz’ Symphonie fantastique am 20.06.)
Leider ist trotz des Saisonmottos der Platz dieser Seiten nicht grenzenlos, sonst ließe sich noch ausführlich etwas über das 1945 nicht mehr von Bartók selbst beendete Bratschenkonzert erzählen, das dem Aspekt »grenzenlos« die Problematik einer offenen Wunde einschreibt. (Bartóks Violakonzert am 17.01., Tanzsuite am 11.02., Klavierquintett C-Dur am 16.05.) Auch die vertrackte Geschichte der Uraufführung von Sibelius’ Violinkonzert vierzig Jahre zuvor und die grenzenlose Enttäuschung des Geigers Willy Burmester, der das einzige Solokonzert des Komponisten zwar initiierte, wegen Vorverlegung des Premierendatums und -orts aber nicht spielen konnte. Als er dann bei der überarbeiteten Neufassung – 1905 dirigiert von Richard Strauss – abermals übergangen wurde, war er so grenzenlos verärgert, dass er das ursprünglich ihm zugedachte Konzert nie spielen sollte. (Sibelius’ Violinkonzert d-Moll am 21.03.)
Das Violinkonzert hatte sich Anfang des 18. Jahrhundert aus dem Concerto grosso entwickelt und blüht seitdem in allen Säkula. Zwischen den Epochen ist Fritz Kreislers Violinkonzert »Im Stil von Vivaldi« zu verorten, das der austroamerikanische Komponist und Geigenvirtuose erst 1935 als sein Werk zu erkennen gab – es war nicht sein einziger Scherz in barocker Kunst. Zehn Jahre später nahm er sogar den Pseudo-Vivaldi mit warm schmelzenden Ton und seinem berühmten durchgehenden Vibrato auf Platte auf. (Kreislers Violinkonzert »Im Stil von Vivaldi« am 25.12.) Das erste Violinkonzert von Prokofjew beginnt über ätherisch glitzernden Streicherklängen mit einer innigen Melodie der Violine, die sognando zu spielen ist – »verträumt«. Der 25jährige Komponist erfand die zärtliche Weise während seiner Liebesaffäre mit Nina Mescherskaya, doch Prokofjew wandte sich bald nicht nur anderen Frauen, sondern auch seiner Oper Der Spieler zu, und das kontrastreiche Konzert wurde erst 1917 vollendet. Die Unruhen in Russland zu dieser Zeit verhinderten eine Premiere, so dass diese erst 1923 in Paris mit Picasso, Rubinstein und der Pavlova im Publikum zu gemischten Reaktionen stattfand. Der junge George Auric verurteilte das Konzert als »abgeleiteter Mendelssohn« – ein Spruch, der jenseits von radikalem Avantgarde-Hunger ein Kompliment ist. (Prokofjews erstes Violinkonzert am 01.04., Quintett g-Moll am 06.06.)
Wie dicht eine Verbindung des Modernen und des Romantikers tatsächlich ist, lässt sich diese Saison überprüfen: In Mendelssohns Violinkonzert präsentiert das Soloinstrument überraschend bereits ab dem zweiten Takt das schwungvolle Hauptthema, doch die entscheidende Neuerung ist die Grenzenlosigkeit zwischen den ersten beiden Sätzen, da das Fagott nahtlos vom Allegro molto appassionato des ersten zum Andante des zweiten Satzes überleitet, dort von den Streichern empfangen wird und diese der Violine dann den Boden für ihre sehnsuchtsvolle Melodie bereiten. (Mendelssohns Violinkonzert e-Moll am 10.01., Streichquintett B-Dur am 06.06.) Mendelssohn gewährt der Solovioline noch einen Takt orchestraler Einleitung, während Barbers 1939 geschriebenes Violinkonzert ohne Introduktion sofort mit einem gemeinsamen, lyrisch ruhigen Moment beginnt, bevor es dann Fahrt aufnimmt. Der zweite Satz führt mit der Oboe fast schon ein zweites Soloinstrument ein, dessen Melodie erst spät in die Violine fließt, während der dritte – im Entstehungsprozess des Konzertes als Auftragswerk heiß umstrittene – Satz als Perpetuum mobile virtuoseste Geschwindigkeit und rhythmische Raffinesse verlangt. (Barbers Violinkonzert und erste Symphonie am 30.05.)
Es werden diese Saison auch Werke von Bach und Schostakowitsch, Paganini und Dvořák, Borodin und Grieg, Brahms und Pärt sowie anderen mehr zu hören sein, doch können weder Worte noch Bilder die Musik aus der Stille der gedruckten Notenseiten locken: Diese werden erst durch das Spielen und Hören in jeder Aufführung lebendig und damit sowohl über lokale und temporale Beschränkungen hinweg wie auch in der Vorstellungskraft des individuellen Menschen grenzenlos.
Dr. Alexander Meier-Dörzenbach ist nach seiner juniorprofessoralen Tätigkeit im Fachbereich Amerikanistik an der Universität Hamburg und seiner Arbeit als Chefdramaturg des Aalto- Musiktheaters und der Essener Philhar- moniker inzwischen freischaffend tätig. Als Operndramaturg arbeitet er unter anderem bei den Bayreuther und den Salzburger Festspielen, in London, Amsterdam, Paris, Wien und Berlin, lehrt an mehreren Universitäten und Hochschulen und ist dramaturgisch beim Lausitz Festival tätig. Mehr lesen